Pfaffenhofen
"Die Geschichte zu vergessen wäre fatal"

19.06.2020 | Stand 02.12.2020, 11:08 Uhr
Auf fünf Jahre erneuerten 2015 die beiden Landkreise Pfaffenhofen und Tarnów ihren Partnerschaftsvertrag, unterschrieben haben damals Zbigniew Karcinski (links) und Martin Wolf. −Foto: PK/Archiv

Pfaffenhofen/Tarnów - Nachdem der Landkreis Pfaffenhofen seine Partnerschaft mit Tarnów bis zur endgültigen Entscheidung im Kreisrat auf Eis gelegt hat, melden sich Altlandrat Rudi Engelhard sowie unser Autor Roland Scheerer zu Wort.

Scheerer hatte mit seinem Artikel im PK die Entwicklung zur LGBT-Frage in Tarnów überhaupt erst in den Fokus gerückt. Engelhard hat in seiner Amtszeit den Partnerschaftsvertrag unterschrieben und wurde außerdem zum Ehrenbürger von Tarnów ernannt.

Rudi Engelhard: Es war im Jahre 2000 als wir mit der Bitte des Landkreises Tarnów, eine Partnerschaft einzugehen, konfrontiert wurden. Die Landkreise wurden in Polen erst kurz vorher geschaffen. Wir waren etwas abwartend. Da erreichte mich ein Anruf des damaligen Außenministers Joschka Fischer (Grüne) der knapp sagte: Bitte machen Sie sich sachkundig, dann werden Sie sehen, dass Sie die zur Versöhnung ausgestreckte Hand nicht ausschlagen können.

Ich kann aus den mir zur Verfügung stehenden Berichten über die unvorstellbaren Grausamkeiten die während des Zweiten Weltkrieges im deutschen Namen in Tarnów verübt wurden, nur lückenhaft berichten. Zu Beginn der Partnerschaft konnte ich noch mit überlebenden Zeitzeugen sprechen, die damals noch traumatisiert waren. Die steinernen Zeugen sind heute noch zu sehen: Die Überreste der Synagoge, die kleine Treppe und der jüdische Friedhof, der Marktplatz. Orte, auf denen die Massenerschießungen durch geführt wurden.

Die Stadt Tarnów wurde am 7. September 1939 von der Deutschen Wehrmacht eingenommen. An 14. Juni 1940 begannen die Massentransporte politischer Gefangener in das Konzentrationslager Auschwitz. Allein der erste Transport umfasste 728 Polen. Im Juni 1942 begann die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Vom 11. bis 19. Juni 1942 wurden Tausende Juden auf dem Marktplatz zusammengetrieben, gefoltert und dann ermordet. 13500 Juden wurden in das Vernichtungslager Belzec gebracht. Aus den Straßen Tarnóws und dem jüdischen Friedhof wurden etwa 3000 Menschen erschossen. In den Wäldern um Tarnow wurden weitere 7000 ermordet. Nach einem Dokument von Michal Borawski musste die kleine Treppe und die Bernardynsi-Straße von der Feuerwehr von Blut gereinigt werden.

Im September 1943 beschloss die Besatzung, das Tarnówer Ghetto zu zerstören. 7000 wurden nach Auschwitz und 3000 in das Konzentrationslager Plaszow in Krakau gebracht. Nur 700 überlebten. Ende 1943 wurde Tarnow für ,judenfrei' erklärt.

Bei dieser Geschichte tut man sich schwer, als Deutscher mit den Menschen in Tarnów über Menschenrechte zu sprechen. Wir sollten dies aus dem aktuellen Anlass aber trotzdem tun. Mit der gebotenen Zurückhaltung und ohne Hau-drauf-Methoden.

Als Sprecher des Partnerschaftskomitees bitte ich eindringlich, das seit 20 Jahren laufende Werk der Versöhnung fortzusetzen. Nur wenn möglichst viele Menschen beiderseits der Grenzen sich kennen lernen, wird Europa zusammenwachsen. Die Geschichte zu vergessen wäre fatal.

Roland Scheerer: Wie umgehen mit den Orbáns, Putins, Erdogans und Trumps dieser Welt? Kontakt abbrechen wegen Pressezensur, Krimbesetzung, Waffenwahn? Vor einer ähnlichen Frage steht unser Landkreis - in kleinerem Maßstab.

Roman Lucarz ist der Landrat unseres Partnerlandkreises Tarnów. Seine Tiraden gegen Homosexuelle sind unerträglich: Deren "pathologische Störung" habe nicht nur zum "Untergang der ägyptischen, griechischen und römischen Kultur" geführt, nein, ihre "linksradikale Propaganda" - damit ist die Forderung nach Gleichstellung gemeint - verderbe "unschuldige Kinder", widerspreche dem "Naturrecht", sei gar der Weg zur "Auslöschung der europäischen Zivilisation", an deren Stelle - was kann noch schlimmer sein? - drohe "der Islam" zu treten. Trotz alldem - der Gipfel selbstgefälliger Heuchelei! - will Lucarz "so wie Jesus" keinen Menschen verurteilen, weshalb seine Anti-LGBT-Resolution auch niemanden diskriminiere. "Nur die Taten" dieser Sünder, sagt Lucarz, die verurteile er.

Das alles ist schwer zu verdauen. Es ist jedermann zugänglichen Presse- und Fernsehinterviews zu entnehmen. Selbst die Kabarettisten der Stachelbären könnten daraus keine Satire machen, weil es schon Satire ist. Wenn es nur nicht so ernst wäre.

Lucarz sitzt fest im Sattel, seine Partei verfügt über eine satte absolute Mehrheit im Kreistag, und man muss davon ausgehen, dass diese Leute mit seinen Hetzreden einverstanden sind. Wo wäre da noch eine gemeinsame Grundlage?

Und doch wäre es einen Versuch wert, die Beziehung zu retten. Mit gefrorenem Lächeln Orbán, Trump und Putin die Hand zu schütteln bedeutet keine Zustimmung zu deren Medien-, Waffen- und Annexionspolitik, sondern zeugt von einer gewissen Professionalität. Man bleibt in Kontakt, um etwas zu bewirken. Der PiS-Partei jedenfalls kann man keinen größeren Gefallen tun, als ihr Klischee vom schulmeisternden Deutschen, der den Polen mithilfe der EU seinen Lebensstil aufzwingen will, zu bestätigen - gefundenes Fressen für ihre "Alle gegen uns"- Rhetorik. Man kann sich ausmalen, wie Lucarz lustvoll zum Gegenschlag ausholt. Der wird wehtun. Ohne Verweis auf das, was wir Deutschen hofften, für immer überwunden zu haben, werden wir nicht davonkommen. Anzunehmen, dass er unseretwegen seine Resolution zurücknimmt, ist wirklichkeitsfremd.

Partnerschaftsprogramme wollen das Trennende überwinden. Das setzt nun mal die Existenz des Trennenden voraus. Es war die ganze Zeit da. Nur haben wir es erst jetzt bemerkt.

Der Volksfestbeauftragte der Stadt Pfaffenhofen schlägt einen anderen Weg vor: Man solle sechs Busse chartern, Vertreter aller gesellschaftlichen Gruppen aus Tarnów zum nächsten Pfaffenhofener Volksfest bringen und nicht an Bier- und Hendl-Marken sparen. Dort könnten die Gäste die Vielfalt und Offenheit, deren sich unsere Gesellschaft rühmt, von ihrer schönsten Seite genießen. Im Bierzelt kann man offen sprechen. Wer in Tarnów aufgewachsen ist, hat womöglich noch nie einen Menschen mit anderer Hautfarbe gesehen. Man nähme Eindrücke mit nach Hause. Toleranz gedeiht nicht durch Nazi-Vergleiche, sondern durch persönliche Begegnung, face-to-face. Man wäre im Gespräch.

PK