Wolnzach
Als der einst größte Arbeitgeber fiel

WZ-Serie "Spurensuche" startet mit Rückblende auf das 1975 geschlossene Mannesmann-Thyssen-Werk

14.06.2019 | Stand 23.09.2023, 7:24 Uhr
Stolz und auch etwas wehmütig posierten die verbliebenen Mannesmann-Thyssen-Mitarbeiter im Juni 1975 vor dem letzten Tank. Franz Huber (sitzend), dem dieses Foto jetzt in die Hände fiel, hatte den Tank damals mit Kreide beschriftet. −Foto: privat

Wolnzach (WZ) Firmen, die so mancher nicht mehr kennt, die aber dennoch in früheren Zeiten für Wohlstand und Zusammenhalt standen. Straßennamen, deren Bedeutung vielen nicht klar ist, Personen, die durch ihr Tun die Geschicke des Marktes bestimmten, Gebäude, die einst waren und heute nicht mehr sind. Mit einer neuen Serie begibt sich die Heimatzeitung ab sofort auf "Spurensuche". Den Anfang macht die Erinnerung an ein Unternehmen, das in den 1960er und 1970er Jahren vielen Brotgeber und auch ein bisschen Heimat war: das Mannesmann- und später Thyssen-Werk an der Feierabendmühle.

Beim Stöbern in den Schubladen ist es ihm in die Hände gefallen: ein altes Foto, dessen leicht gelbstichige Farbgebung es unschwer als Bild der 1970er Jahre identifiziert. Der Wolnzacher Franz Huber wusste gleich, was er da in den Händen hielt, denn er selbst ist auf dem Foto abgebildet - zusammen mit den Kollegen des Thyssenwerks. Geschossen wurde es an dem Tag, als in Wolnzach eine Ära zu Ende ging und der letzte Erdtank mit einem Fassungsvermögen von 60000 Litern auslieferungsfertig war.

"Der letzte Wolnzacher 60000", steht auf dem Tank. Geschrieben hat das mit Kreide genau der, der jetzt das Foto wiedergefunden hat: Franz Huber, damals 32-jähriger Familienvater - mit Haus und plötzlich ohne Arbeit. Denn im Juni 1975 stellte Thyssen die Tank-Produktion in Wolnzach ein. Damit verlor der Markt seinen zeitweilig mit Abstand größten Arbeitgeber, denn das Unternehmen, das im Herbst 1970 das 1961 von Mannesmann gegründete Werk zur Fertigung von Lagerbehältern übernommen hatte, beschäftigte in Spitzenzeiten über 220 Mitarbeiter - und rangierte damit landkreisweit ganz oben.

"Die Werksschließung war schlimm für uns alle damals", erinnert sich Franz Huber noch gut. "Sehr schlimm." Denn "Mannesmann" - bei den Mitarbeitern ist laut Huber die Umfirmierung in "Thyssen" verbal nie so recht angekommen - war den Mitarbeitern irgendwie auch Heimat, ein starker Arbeitgeber, bei dem der Mitarbeiter noch etwas zählte und der Zusammenhalt passte. "Da hat keiner auf die Uhr gesehen", sagt Huber. Auch nicht am Wochenende. "Wir haben alle immer geschaut, dass der Laden läuft." Egal, wann, egal, wie spät. So war das damals.

Denn das Geschäft mit den Tanks boomte. Kein Wunder. Es war ja auch die Zeit, als überall Heizungsanlagen installiert und dementsprechend Lagertanks gebraucht wurden. Das Unternehmen selbst beschrieb die Betriebsansiedlung in Wolnzach damals so: "Vor den Toren Wolnzachs begann im Frühjahr 1961 die Mannesmann-Stahlblechbau GmbH ihren Werksaufbau. Schon im September 1961 konnte die Produktion aufgenommen werden und zwar mit 130 Beschäftigten (rund 40 aus Wolnzach selbst). Die gegenwärtig in Doppelschicht laufende Fertigung erstreckt sich auf oberirdische Batterietanks (1000, 1500 und 2000 Liter Inhalt) und unterirdisch zu etablierende Lagertanks (3000 bis 50 000 Liter), die selbstverständlich doppelwandig gehalten sind. In einer sechs mal 40 Meter großen, lichtdurchfluteten Halle ist eine Feinblechstraße untergebracht. Die Montage erfolgt in der Hallenmitte. Leistungsfähige Autokrane transportieren die elektrogeschweißten Tanks zum weitläufigen Lagerplatz, von wo die einzelnen Behälter mit Bundesbahnwaggons über das eigene Anschlussgleis oder mit firmeneigenen Lastkraftwagen abgefahren werden. Mit Genugtuung weist die Werksleitung auf die weiter steigenden Umsatzzahlen hin, wobei der Kundenkreis im Bundesland Bayern vom Eigenheimbesitzer bis zum Industriewerk reicht. Die überwiegend von Überlegungen der Frachtersparnis getragene Standortwahl - früher mussten erhebliche Beträge für den Öltankertransport vom Ruhrgebiet nach dem südlichen Teil Westdeutschlands aufgebracht werden - für diese Mannesmann-Produktionsstätte kann bereits jetzt als ein Erfolg des Konzernunternehmens gewertet werden."

Ab Oktober 1970 wurde an der Feierabendmühle aus "Mannesmann" das Werk "Thyssen-Industrie", denn im Rahmen einer zwischen der August Thyssen AG und der Mannesmann AG vereinbarten Arbeitsteilung hatte die Thyssen Hütte AG das Wolnzacher Mannesmann-Werk zum 1. Juni 1970 übernommen.

Am Werk Wolnzach sollte sich nicht viel ändern - und tat es zunächst auch nicht, wie Franz Huber als ehemaliger Mitarbeiter weiß: "Wir haben davon nicht viel gemerkt." Der Betrieb lief weiter, wie gewohnt. Bis sich die Konkurrenz bemerkbar machte und günstigere Anbieter den Kampf um Anteile auf dem Lagerbehältermarkt verschärften. Auch in Wolnzach stagnierten plötzlich die Absatzzahlen, Unsicherheit bei den Mitarbeitern machte sich breit, Gerüchte schossen ins Kraut. Doch der damalige Werksleiter "Oberingenieur" Schuster, den auch Franz Huber in sehr guter Erinnerung hat, habe immer beruhigt: Man habe Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern und sei sich dessen sehr bewusst, habe er immer gesagt.

Doch der Markt wurde immer härter - und die Zeichen unübersehbar: Kurzarbeit, einige Kollegen suchten sich gleich etwas anderes, trauten der Zukunft beim Mannesmann-werk, das längst "Thyssen" hieß, nicht mehr so recht, und kamen als gefragte Arbeiter ganz gut unter - oder machten sich mit eigenen Betrieben selbstständig. Nicht so Franz Huber: "Ich bin geblieben, bis zu diesem letzten Tag vor genau 44 Jahren." Warum? Weil er es irgendwie nicht glauben konnte - oder wollte, dass das Ende wirklich da war. Unausweichlich und mit aller Härte. Für ihn und für alle anderen. "Da hatten fast alle Familie wie ich halt auch", sagt Huber. Und arbeitslos - das war damals ein Makel, mit dem keiner herumlaufen wollte. Auch Franz Huber nicht, der recht schnell etwas anderes fand und bis zu seiner Pensionierung für die Messerschmitt AG arbeitete. Für die Mitarbeiter - bis ganz zum Schluss hatten 26 durchgehalten - wurde ein Sozialplan ausgearbeitet und mit 750000 Mark ausgestattet. Geld, das übrigens voll ausgeschüttet wurde.

Bis sich schlussendlich der Automobillogistiker ARS Altmann an der Feierabendmühle ansiedelte, lieferte das Gelände immer wieder Gesprächsstoff: Gleich nach der Schließung signalisierte ein Industriellen-Konsortium unter Führung eines Pfaffenhofener Unternehmers Interesse für das Areal. Die Geschäftsidee: Kunstschieferplattenproduktion nach einem schwedischen Patent. Doch daraus wurde nichts.

Dann kaufte 1978 ein mittlerweile nach Australien ausgewanderter Unternehmer das 56000 Quadratmeter große Grundstück - für 1,3 Millionen Mark. Sein Ziel: die Errichtung eines Hallertauer Einkaufszentrums. Eine Idee, die der Markt Wolnzach unterstützte, die jedoch dann an der Regierung von Oberbayern im Raumordnungsverfahren scheiterte. Begründung: Ein solches Zentrum würde die ansässigen Geschäfte und umliegenden Orte über Gebühr schädigen.

Auch Schauplatz für ein legendäres Open-Air war das Thyssengelände im Sommer 1982. Es traten unter anderem auf: Inga Rumpf, die Al Jones Blues Band Band, Cacumen (später "Bonfire"), United Cervelat, die Peter Gorski Band und Titus Jackman. Musik in den Ohren des Marktes war dann im Spätherbst 1984 auch die Nachricht, dass der Grundstücksbesitzer und die Firma Altmann handelseinig waren. Grund: Die erfolglosen Versuche des Unternehmers, seine Einkaufszentrumspläne umzusetzen, hatten über Jahre hinweg sehr viel Staub aufgewirbelt.

Karin Trouboukis