Neuburg
Wenn es normal ist, verschieden zu sein

Sozialverband VdK und die Offenen Hilfen spannen einen weiten Bogen über das Thema Inklusion

24.06.2018 | Stand 02.12.2020, 16:11 Uhr
Traurige Geschichte: Stefanie Staudigl las aus dem Buch "Kinderhaus ? Leben und Ermordung des Mädchens Edith Hecht". −Foto: Foto: Frank

Neuburg (kpf) Braucht eine Schule einen Aufzug für Rollstuhlfahrer, damit Inklusion Realität werden kann?

Ganz sicher, es müssen ja Stufen überwunden werden - auch die im Kopf. Dennoch mutete die Forderung einer Gewerkschaftsvertreterin im vollbesetzten Café Wortschatz am Freitagabend banal an, angesichts des zuvor Gehörten. Da ging es um Zwangssterilisation, um Volksgesundheit, um die Ermordung behinderter Kinder und das Heer der angeblich Ahnungslosen im Dritten Reich. Harte Kost, dabei hatte das Motto des Abends "Inklusion als Mehrwert - Vergangenheit und Gegenwart" eher nach Fortbildung für Sozialreformer geklungen. Eingeladen hatten der Sozialverband VdK und die Offenen Hilfen. Beide sehen die Inklusion von Menschen mit Behinderung als wichtiges Ziel ihrer Organisationen. "Inklusion ist ein Menschenrecht", betonte VdK-Kreisgeschäftsführerin Sandra Andritschke beim anschließenden Podiumsgespräch.

Zuvor aber trug Johannes Donhauser, Arzt am Gesundheitsamt in Neuburg, Ergebnisse seiner 20-jährige Forschungsarbeit über die Rolle der Gesundheitsämter im Nationalsozialismus vor. Der promovierte Mediziner ist ein profunder Kenner der deprimierenden Materie. Was er in den Archiven zutage gefördert hat, füllt viele Aktenordner. Statt Inklusion war die Exklusion im Dritten Reich staatliche Politik. Die Ausgrenzung, Absonderung und in vielen Fälle auch die Ermordung, "Ausmerze" im Nazijargon, wurde systematisch betrieben. Zu den Buchhaltern des Todes gehörten in unterschiedlicher Intensität auch die Amtsärzte, die behinderte Kinder in sogenannte Heil- und Pflegeanstalten überstellten. Viele von ihnen konnten nach dem Krieg einfach weiterarbeiten. Donhauser nannte stellvertretend Hans Joachim Sewering, der als junger Arzt in der Tuberkuloseheilanstalt Schönbrunn tätig war und Kinder in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar eingewiesen hat. Später, Sewering wollte von den Tötungen dort nichts gewusst haben und wurde juristisch auch nicht belangt, avancierte er zum Präsidenten des Deutschen Ärztetages und hatte weitere hohe Funktionen in der Standesvertretung. Andere überzeugte Rassehygieniker zahlten geringe Geldstrafen und wurden entnazifiziert.

Donhauser schilderte das Schicksal von drei Kindern aus der Region, die die Nazibürokratie in die Kinderfachabteilung Eglfing-Haar überstellt hatte. Der elf Monate alte Maxi, der an einem Wasserkopf litt, starb "an Vernachlässigung", wie Donhauser sagte. Die siebenjährige Luzy wurde vorsätzlich mit Luminal so stark sediert, dass sie einer Lungenentzündung erlag. Lediglich Johann, sieben Jahre alt, überlebte die Nazizeit.

Unter ihnen auch Edith Hecht. Das kleine Mädchen war stark behindert und zur falschen Zeit geboren. Den Kampf um das Leben ihrer Tochter verloren die Eltern an die Rassenhygieniker,die Mord mit Therapie gleichsetzten. Allein in Bayern fielen 20000 Menschen der Euthanasie zum Opfer. Mehr als 300 Kinder wurden in Eglfing-Haar getötet. Der Journalist Markus Krischer hat darüber ein Buch geschrieben: "Kinderhaus - Leben und Ermordung des Mädchens Edith Hecht". Aus dem las Stefanie Staudigl, Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes, ein bewegendes Kapitel.

Im Anschluss an diesen furchtbaren Abschnitt deutscher Geschichte war es schwer, den Übergang zum Jetzt zu finden. Als Gesprächspartner für die etwa 70 Anwesenden standen neben Donhauser Eva Sindram von Pro Familia, die Sonderschulpädagogin Gabriele Gabler von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Juliane Pichler von den Offenen Hilfen und VdK-Kreisgeschäftsführerin Sandra Andritschke zur Verfügung. VdK-Kreisvorsitzender Bernhard Peterke moderierte. Er stellte vor dem Hintergrund er Inklusion fest, dass dies Zugehörigkeit bedeute, also das Gegenteil von Ausgrenzung. "In einer inklusiven Gesellschaft ist es normal verschieden zu sein", sagte Peterke. Ziel sei es, alle Bereiche des Lebens soweit wie möglich zu teilen.

Aus den Zuhörerreihen, in denen Stadt- und Kreispolitiker sowie mehrere Bürgermeister saßen, meldete sich Stadtrat Fritz Goschenhofer zu Wort und beklagte, die Bahn sperre sich seit Jahren gegen Barrierefreiheit. Gabriele Gabler stellte fest, dass es immer noch Aussonderung gebe und Juliane Pichler fand, man müsse lernen, die Einzigartigkeit von Menschen wertzuschätzen. CSU-Landtagskandidat Matthias Enghuber bekannte sich zwar zum gegliederten Schulsystem, in dem sich jeder Schüler nach seinen Möglichkeiten entwickeln könne, betonte aber auch die Notwendigkeit von Inklusion "wo es möglich ist". "Inklusion ist eine Aufgabe, ein Ziel, woran alle mitdenken und mitarbeiten müssen", ergänzte SPD-Bezirkstagskandidat Heinz Schafferhans.