Neuburg
"Kinder haben das Entscheidungsmonopol"

Die Aktion "Ferienpass" sieht dieses Jahr eine Kinderspielstadt vor.

14.08.2018 | Stand 02.12.2020, 15:52 Uhr
Kinder an die Macht: Jürgen Stickel ist mit dem Konzept "Kinderspielstadt" vertraut. −Foto: Foto: Viertbauer

Neuburg (DK) Eine Kinderspielstadt ist ein großes, aufregendes Abenteuer, in dem sich Spiel und Wirklichkeit miteinander verbinden - Mit diesen Worten definiert Jürgen Stickel, Stadtteilmanager in Neuburg in seiner Diplomarbeit das Konzept einer Kinderstadt. So wie "NeuSobPolis", an der Stickel maßgeblich beteiligt ist. Doch auch mit ähnlichen Projekten hat er schon Erfahrung gesammelt.

Herr Stickel, welchen pädagogischen Hintergrund hat "NeuSobPolis" und was erwarten Sie sich davon?

Jürgen Stickel: "NeuSobPolis" schafft den Kindern Möglichkeiten, in eine Welt einzutauchen, in der sie sonst immer nur Befehle empfangen und sich an Regeln halten müssen. In der Kinderspielstadt können sie auf bestimmte Situationen reagieren, eigene Regeln aufstellen und mit den Konsequenzen leben.

Ist es in "NeuSobPolis" ein Problem, dass fast jedes Kind ein Smartphone besitzt?

Stickel: Ich glaube, ich habe in der ersten Woche ganz kurz vor Schluss mal ein Handy gesehen, ansonsten waren die Kinder so im Spielfluss und in der Kommunikation, dass ein Handy überhaupt kein Thema war. Es gab keine Frage nach Handys, es wurden keine während der Kinderspielstadt benutzt. Die Kinder waren viel zu beschäftigt, weil keine Langeweile entstand.

Sind die Betreuer in "NeuSobPolis" ausgebildete Kräfte aus einem Bereich des Sozialen oder der Pädagogik?

Stickel: Die Betreuer sind zum einen das Kernplanungsteam - das sind ausgebildete sozialpädagogische Fachkräfte. Die Betreuer der einzelnen Stände sind überwiegend Praktikanten von der Fachakademie für Erziehung und Sozialpädagogik.

Von wem wurde die Kinderspielstadt im Landkreis Neuburg-Schrobenhausen organisiert?

Stickel: Es ist eine Veranstaltung vom Kreisjugendring, verantwortlich ist hier der Geschäftsführer Guido Büttner, in Kooperation mit der kommunalen Jugendarbeit, Anne Heiß vom Landratsamt, sowie den Mitarbeitern des Jugendzentrums und mir als Stadtteilmanager.

Sie haben schon einmal eine Kinderspielstadt namens "Lollytown" organisiert. Wann und in welchem Rahmen fand diese statt?

Stickel: Das ist schon ein paar Jahre her, das war 1996 an einer Gesamtschule in Freiburg. Das Ganze lief über das komplette Schuljahr 1996/97 mit Schülern aus der Orientierungsstufe, sprich Klassenstufe fünf und sechs.

Welche Ausmaße hatte die Kinderspielstadt "Lollytown"?

Stickel: In "Lollytown" waren es 14 Klassen, das heißt knapp 300 spielende Kinder. Betreuer waren natürlich zum einen die Lehrkräfte aus der Grundstufe und ergänzt wurde das Ganze eben auch mit Praktikanten der beiden Fachhochschulen in Freiburg. Das Ganze hat auf einem riesen Schulgelände stattgefunden, zirka zehnmal so groß wie "NeuSobPolis".

Was war Ihrer Meinung nach ein besonderes Erlebnis während der "Lollytown"-Planung?

Stickel: Dadurch, dass die Kinder von vornherein bei "Lollytown" in die Planung miteinbezogen waren, haben wir mit einem Projekt gestartet. Als wir mit ein paar Kindern auf einer Bootstour in den Rhein-Auen waren, haben wir uns scheinbar verfahren und mussten mit einer Jurte und sonst nichts übernachten. Die Kinder wurden dann spielerisch herangeführt: Was wäre, wenn wir nicht mehr zurückkommen? Wie können wir uns ernähren? Wie können wir miteinander klar kommen? Und wie können wir Hilfe holen? Das waren die ersten Überlegungen eines sozialen Miteinanders, wo sich dann eben auch die Gruppenführer gebildet haben. Manche von ihnen waren mehr die Arbeiter, andere eher die Planer und Organisatoren und das war der Einstieg für "Lollytown".

Welche Unterschiede gibt es zwischen dem vierwöchigen "NeuSobPolis" und dem einjährigen "Lollytown" in Freiburg?

Stickel: Der Hauptunterschied zwischen "Lollytown" und "NeuSobPolis" hier im Landkreis ist der, dass bei Ersterem die Planung, Organisation und Durchführung komplett über ein Schuljahr dauerte. Das heißt, Kinder wurden bereits ab dem ersten Schultag in die Idee Kinderspielstadt mit involviert und haben die Stadt grundlegend selbst entwickelt. Also wie soll sie aussehen? Was soll es geben? Wird es eine Stadt, oder ein Dorf? Welche Dinge braucht es für eine Stadt? In Rollenspielen wurden Situationen geübt und auch Modellstädte gebaut. Kinder waren von Vornherein in allen Entscheidungen maßgeblich beteiligt.

Gibt es andere vergleichbare Experimente, wie Kindern die Realität spielerisch beigebracht werden kann?

Stickel: In verschiedenen Bereichen sicherlich, eine Kinderstadt ist ja nur ein Beispiel, um Kinder mal in eine Welt von Erwachsenen reinschauen zu lassen und Entscheidungen zu treffen und dann mit den Konsequenzen zu leben. Im pädagogischen Bereich gibt es viele verschiedene Rollenspiele, in denen Kinder lernen, mit Konsequenzen zu leben. Also es gibt sicherlich viele Freizeitmaßnahmen und Bildungseinrichtungen, die Kinder in den Mittelpunkt stellen und bei denen Kinder Verantwortung übernehmen müssen. Dennoch ist dieses komplexe System einer Kinderspielstadt, mit allem was dazu gehört - Entscheidungen treffen, mit den Konsequenzen leben, soziale Konflikte aushalten - sicherlich einmalig.

In Neuburg findet eine Kinderspielstadt zum ersten Mal statt. Welche Städte haben mit diesem Konzept schon Erfahrungen gesammelt?

Stickel: Also das Konzept Kinderspielstadt gibt's bereits seit den 1970er Jahren, viele haben es als Ferienmaßnahme ausprobiert. Hier in der Region weiß ich sicher von Ingolstadt, das ist ja bekannt, in Pfaffenhofen gibt es "Hallertown", in München - die haben ein bisschen eine Vorbildfunktion in Süddeutschland - gibt es das berühmte Mini-München. Im Stuttgarter Raum, in Esslingen, gibt es auch eine Kinderspielstadt.

Warum hat es über 20 Jahre gedauert, nach "Lollytown" 1996/97, die Spielstadt in Neuburg durchzuführen?

Stickel: Das hat so lange gedauert, weil es im Landkreis sicherlich aufgrund des Ferienprogramms des Kreisjugendrings ganz viele unterschiedliche Angebote gibt. Es gibt zusätzlich noch die Sommerakademie und bis sich so eine Idee durchsetzt, bedarf es natürlich auch motivierter Mitarbeiter, die eine solch relativ aufwendige Planung auch angreifen.

Kann man durch dieses Projekt schon während der Schulzeit erkennen, in welchem Beruf ein Kind gefördert werden kann?

Stickel: Also Kinder sind erstmal komplett unter sich, das heißt keine Erwachsenen sind Ansprechpartner. Insofern hat es sicherlich einen Einfluss, was Zuhause vorgelebt wird, also die Vorbildfunktion von Vater und Mutter, nicht nur persönlich sondern eben auch beruflich. Das Kind versucht, das Vorgelebte dann zu kopieren und zu adaptieren und das leben sie in der Kinderspielstadt aus, weil es eben ein bekanntes Terrain ist. Aber ich denke nicht, dass in dem Alter der Vorpubertät schon grundlegend erkennbar ist, in welche Richtung die Kinder einmal gehen werden.

Welche Verhaltensmerkmale sind typisch bei Kindern in Spielstädten?

Stickel: Typische Verhaltensmuster gibt es nicht. Wichtig ist, dass man sagt, dass bei diesem Konzept kindergerechte Spielsituationen geschaffen werden, die Kinder das Entscheidungsmonopol haben und dass sie vor allem ernst spielen. Sie müssen mit allen Konsequenzen leben. Bei der Planung wird im Prinzip von vornherein die Perspektive der Kinder berücksichtigt.

In Stuttgart hat es 2014 in der Spielstadt mehrere Fälle von Falschgeld gegeben. Wie sich herausstellte, wurde das Geld von Eltern "kopiert" und den Kindern mitgegeben. Wie wird sich verhalten, wenn von außen Störfaktoren wie beschrieben das geschlossene System manipulieren?

Stickel: Das hat sicherlich politisch und gesellschaftlich weitreichende Folgen gehabt, in so einer Kinderstadt. Aber auch hier müsste man genauer hinschauen: Wenn Eltern das machen, ist es sicherlich nicht kindergerecht und besonders pädagogisch durchdacht. Aber auch mit so einer Situation sind die Kinder selbst in der Lage, klar zu kommen. Also ob es eine Inflation gibt, ob es Falschgeld gibt, eine Krise, ob Waren ausgehen. Das sind alles ganz typische Dinge, die in einer Kinderspielstadt passieren. Es gibt normalerweise auch Gemeinderäte und Bürgermeister, die Entscheidungen treffen. Kinder gehen relativ schnell und unkompliziert an solche Situationen ran.

Das Gespräch führte
Patricia Viertbauer.

 ZUR PERSONStadtteilmanager Jürgen Stickel wurde am 7. Juli 1967 in Freiburg geboren und studierte dort Sozialpädagogik. Im Rahmen seiner Diplomarbeit organisierte er 1996/97 die Kinderspielstadt "Lollytown". Heuer ist er auch in "NeuSobPolis" an der Durchführung beteiligt.