Flucht aus der Ukraine
Wenigstens beim Tango ist der Krieg weit weg

19-jährige ukrainische Spitzentänzerin hat es nach Ernsgaden verschlagen

09.07.2022 | Stand 22.09.2023, 21:27 Uhr

Unbeschwerte Vorkriegszeit: Ein internationaler Wettbewerb in Warschau im Dezember war für Vladyslava Nachyniana ihr bislang letzter großer Auftritt. Fotos: privat/Kohlhuber

Von Gerhard Kohlhuber

Am 24. Februar, dem Tag des russischen Überfalls, ist für Vladyslava Nachyniana in Kiew „das Leben stehen geblieben“. Ein Leben mit dem Ziel, einmal Weltmeisterin im Standard-Paartanz zu werden. Doch dann kam der Krieg, und die 19-Jährige entschloss sich mit Mutter, Schwester und Hund zur Flucht. Untergekommen sind die vier in Ernsgaden, doch selbst hier – weitab von adäquaten Trainingsmöglichkeiten – arbeitet die mehrfache ukrainische Titelträgerin mit ungebrochenem Ehrgeiz an der Verwirklichung ihres großen Traumes.



Warum sie am 9. März ausgerechnet bei Brigitte Schmelzer in Ernsgaden untergekommen sind, weiß Vladyslava gar nicht so genau. „Darum hat sich die Mama übers Internet gekümmert.“ Aber es hat von Anfang an gepasst – vielleicht auch wegen der Liebe zu Hunden, die Brigitte Schmelzer mit ihren Gästen teilt. „Wir leben hier im Haus wie eine große Familie“, erzählt die 19-Jährige bei dem auf Englisch geführten Gespräch. Diese Fremdsprache beherrscht Vladyslava sehr gut, schließlich ist sie als Studentin für internationales Recht an der Universität in Kiew eingeschrieben. Der Papa und die Großeltern sind dort geblieben, „und sie fehlen mir sehr“, sagt die junge Frau, auch wenn man täglich miteinander telefoniere.

Der Gastgeberin „unendlich dankbar“

„Wir sind der Brigitte unendlich dankbar für alles, was sie für uns getan hat“, sagt Vladyslava. Und mit „alles“ meint sie auch die Unterstützung, die sie durch die Ernsgadenerin bei der Ausübung ihrer großen Leidenschaft, des Tanzens erfahren hat. Vladyslava tanzt, seit sie fünf ist, und etwa mit 14 Jahren spezialisierte sie sich auf den Paartanz in der Standard-Variante, zu der der Wiener Walzer und der Quickstep genauso gehören wie der Langsame Walzer, der Slowfox und der Tango. Letzterer ist der Lieblingstanz der 19-Jährigen, „weil er ganz langsame und ganz schnelle Bewegungen verbindet und so viel Leidenschaft vermittelt“.

Wie sehr die junge Ukrainerin den Tanzsport liebt, zeigt die viele Zeit, die sie investiert. „Sieben Tage die Woche jeweils so zwei bis vier Stunden“, antwortet sie auf die entsprechende Frage – und dieser Trainingsfleiß trägt Früchte. Als Erfolge listet Vladyslava nicht nur „viele erste Plätze“ in der Ukraine auf, sondern auch Platz vier bei den Internationalen Italienischen Meisterschaften, sowie – als bislang größter Erfolg – Platz 24 bei den Weltmeisterschaften 2019 im britischen Blackpool. Unter mehr als hundert Starterpaaren.

Noch gar nicht so lange her, aber durch die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Monate „schon unendlich weit weg“ ist der letzte große Auftritt der 19-Jährigen, der Air Dance Christmas Ball im Dezember 2021 in Warschau – ein internationaler Amateurtanz-Wettbewerb, bei dem Vladyslava Platz zwei mit ihrem Partner belegte.

Dieser hat in den Jahren, seit Vladyslava Paartanz betreibt, immer wieder mal gewechselt. Auch aus England und Moldau kamen mal zwei Tänzer, den letzten Partner, einen Ukrainer, hatte die 19 -Jährige ab dem August 2021. Bis zum russischen Überfall auf die Ukraine, seit dem, so empfindet es Vladyslava, „irgendwie die Zeit stillsteht“.

Seit vier Monaten lebt die junge Frau aus Kiew nun mit ihrer Teilfamilie in der bayerischen Provinz. Ein Tanztraining in bisherigen Umfang ist hier natürlich nicht möglich, aber mit Hilfe ihrer Gastgeberin hat Vladyslava Mittel und Wege gefunden, tänzerisch aktiv zu bleiben. „Brigitte hat sich in der ersten Zeit darum gekümmert, dass ich den Saal im Dorfgemeinschaftshaus zum Training nutzen durfte“, erzählt die 19 -Jährige. Paartanz-Training allein? „Ja, auch das geht zur Not“, sagt Vladyslava und schmunzelt. „Man muss halt aufpassen, dass man nicht das Gleichgewicht verliert.“

Kleine Showeinlage im Dorfgemeinschaftshaus

Hier, im Dorfgemeinschaftshaus, gab es – als Dankeschön für das Ernsgadener Flüchtlingshelfer-Team – vor einigen Wochen auch eine kleine Showeinlage. Danila, ein renommierter Paartänzer aus Weißrussland, den Vladyslava von Wettbewerben in der Ukraine kennt, kam zu Besuch, und gemeinsam sorgen die beiden „für ein paar Gänsehaut-Momente“, wie Belgin Schuhmayr vom Helferteam erzählt.

Seit etwa einem Monat hat die 19-Jährige jedoch auch in Deutschland einen Partner gefunden, mit dem sie regelmäßig mehrmals die Woche trainieren kann. Über Besuche bei der Tanzsport-Abteilung „Schwarz-Gold“ im ESV Ingolstadt lernte sie den 25-jährigen Christopher kennen, mit dem sie „toll harmoniert“ und mit dem sie sich auch menschlich sehr gut versteht. Mit ihm trainiert Vladyslava derzeit mehrfach pro Woche abwechselnd in Ingolstadt, München und Augsburg. „Und vielleicht, wer weiß, wird er dann auch mal mein Tanzpartner in der Zukunft.“

Apropos Zukunft: Was diese für Vladyslava, ihre Schwester, ihre Mutter und Hund „Zack“ parat hält, bleibt spannend, denn die vier stehen vor einem erneuten Reise-Abenteuer. Schon in einigen Wochen – „wenn es die Kriegslage zulässt“ – wollen sie zurück nach Kiew. Um zu Hause endlich den Papa wieder in die Arme schließen zu können.

GZ