Wegen des Bahnunfalls am 17. November bei Reichertshausen (Landkreis Pfaffenhofen) wird nun gegen den damals diensthabenden Fahrdienstleiter ermittelt – unter anderem wegen des Verdachts auf einen gefährlichen Eingriff in den Bahnverkehr. Das teilt die Staatsanwaltschaft Ingolstadt auf Anfrage mit. Die ermittelnde Bundespolizei bestätigt, dass dem Unfallgeschehen womöglich auch menschliches Versagen zugrunde lag.
Ermittlungen nicht mehr nur gegen „Unbekannt“
Unklar blieb in den vergangenen elf Wochen seit der Beinahe-Katastrophe mit sieben Verletzten, warum der durchfahrende ICE im Ausfahrtbereich des Reichertshausener Bahnhofs seitlich mit einer mutmaßlich „verbremsten“ Regionalbahn zusammengestoßen ist. War es ein Fehler der Sicherheitstechnik – oder war es menschliches Versagen? Darauf könnte hindeuten, dass die Ermittler zumindest einen Anfangsverdacht gegen einen Bahn-Mitarbeiter hegen. „Zunächst wurden die Ermittlungen gegen Unbekannt geführt“, teilt Oberstaatsanwältin Veronika Grieser auf Anfrage mit. Zwischenzeitlich richten sich die Ermittlungen aber gegen einen konkreten Beschuldigten. „Dieser war zum Tatzeitpunkt der verantwortliche Fahrdienstleiter“, so die Sprecherin der Staatsanwaltschaft Ingolstadt. Ob sich der Verdacht bestätigen wird, sei durch die Ermittlungen zu klären. Sprich: Zum jetzigen Zeitpunkt gilt die Unschuldsvermutung.
Verstoß gegen Betriebsvorschriften?
Am frühen Freitagabend hat auch die ermittelnde Bundespolizei detailliertere Angaben zum Stand der Ermittlungen gemacht: „Nach bisherigem Ermittlungsstand besteht der Verdacht, dass der diensthabende Fahrdienstleiter entgegen den innerbetrieblichen Vorschriften, den sogenannten Durchrutschweg für die Regionalbahn vorzeitig auflöste.“ Gegen den Mann sei ein Ermittlungsverfahren wegen Gefährdung des Bahnverkehrs, gefährlichen Eingriffes in den Bahnverkehr sowie fahrlässiger Körperverletzung eingeleitet.
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Daten und Funkverkehr werden ausgewertet
„Die Ermittlungen dauern noch an“, stellt Grieser allerdings klar. Insbesondere seien in großem Umfang technische Daten und der Funkverkehr unter den Beteiligten gesichert worden. Es gab außerdem Ortstermine und ein Sachverständiger sei mit einem Gutachten zu den technischen Zusammenhängen beauftragt worden.
Das Unglück am 17. November
Der Bahnbetriebsunfall hatte sich am regnerischen Nachmittag des 17. November vergangenen Jahres ereignet: Eine Regionalbahn Richtung München, die um kurz nach 14 Uhr am Bahnhof halten sollte, bremste offenbar falsch – und rutschte am Bahnsteig vorbei und über die Weiche zurück zum Hauptgleis. Und zwar so weit, dass der Triebwagen leicht in dieses hineinragte. Ein wenige Minuten später eintreffender ICE konnte trotz Notbremsung einen seitlichen Zusammenstoß nicht mehr verhindern: Der durchfahrende Schnellzug schrammte seitlich am Triebwagen der Regionalbahn entlang. Wie durch ein Wunder wurden nur sieben der insgesamt rund 700 Insassen beider Züge verletzt.
Regionaler Großeinsatz
Weil die Rettungskräfte bei der Meldung einer Zugkollision mit dem Schlimmsten rechneten, lief sofort ein riesiger Einsatz an. Zwar stellte sich das Geschehen am Bahnhof als weit weniger dramatisch dar als befürchtet, dennoch hatten die Helfer alle Hände voll zu tun. Hunderte Menschen waren nach der Evakuierung der Züge in Reichertshausen gestrandet. Für sie wurde in der Ilmtalhalle eine Anlaufstelle eingerichtet. Bis in den Abend hinein kamen dort Reisende an, um sich aufzuwärmen, auszuruhen und auf Möglichkeiten für die Weiterreise zu warten. Es dauerte Tage, bis sich der Bahnverkehr durch die Region wieder normalisierte.
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Kursierende Theorien
Wie es trotz Schutztechnik gegen solche „Flankenfahrten“ zum Unfall kommen konnte, gab nach dem Unfall Rätsel auf: Wie konnte die Regionalbahn die Schutzweiche am Ende des Bahnsteigs überrollen, ohne dass im Stellwerk Alarm ausgelöst und der ICE rechtzeitiggewarnt wurde? In Fachkreisen kursierten in den Wochen danach verschiedene Theorien – von menschlichem Versagen bis hin zu einer Verkettung von unwahrscheinlichen technischen Zufällen. Doch Letzteres dürfte mit den von der Bundespolizei veröffentlichten Erkenntnissen überholt sein.
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