Pfaffenhofen
Aktionsbündnis um Carmen Lechleuthner kämpft um Rechte für Schwerstbehinderte

Auf ein Wort nach Berlin: Hilfsmittelversorgung als Hauptthema bei Reihe von Politikergesprächen

31.05.2022 | Stand 22.09.2023, 22:44 Uhr

Die Köpfe des Aktionsbündnisses bei ihrer Politikertour in Berlin: Rüdiger Krauspe (von links), Brigitte Bührlen, Carmen Lechleuthner, Mona Dreesmann, der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung Jürgen Dusel und Christiana Hennemann. Foto: Lechleuthner

Von Patrick Ermert

Niederscheyern – Ein Jahr ist es her, dass Carmen Lechleuthner mit ihrer Familie und 55000 Unterschriften im Gepäck von Niederscheyern aus nach Berlin aufgebrochen ist, um beim Petitionsausschuss eine Reform der Hilfsmittelversorgung für Schwerstbehinderte anzuregen. Aus ihrer kleinen Initiative ist ein großes, Mediziner und Betroffene aus ganz Deutschland umfassendes Netzwerk entstanden, das jetzt wieder Kurs auf Berlin nimmt. „Wir haben unsere erste Politikertour hinter uns“, berichtet Lechleuthner, die als Motor im Aktionsbündnis für bedarfsgerechte Heil- und Hilfsmittelversorgung fungiert.

An der Seite der Pflegespezialisten Brigitte Bührlen (Stiftung WIR) und Christiana Hennemann (Rehakind), des Mediziners Rüdiger Krauspe und von Mona Dreesmann (Bundessprecherin Hilfsmittel am Sozialpädiatrischen Zentrum) ging es darum, Bundespolitikern die Augen zu öffnen, damit diese eine Reform der Hilfsmittelversorgung unterstützen. Bei Corinna Rüffer (Grüne) traf die Delegation auf eine alte Bekannte, die schon dabei mitwirkte, die zentralen Forderungen aus der Petition in den Koalitionsvertrag einfließen zu lassen.

Petitionsforderungenim Koalitionsvertrag

Darin steht wortwörtlich: „Für ein diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen erarbeiten wir einen Aktionsplan, stärken die Versorgung schwerstbehinderter Kinder und entlasten ihre Familien von Bürokratie.“ Weiter heißt es im Abkommen zwischen SPD, den Grünen und der FDP: „Kurzfristig sorgen wir für eine bedarfsgerechte Finanzierung für die Pädiatrie, Notfallversorgung und Geburtshilfe.“ Außerdem sollen die Krankenkassen ihre Service- und Versorgungsqualität anhand von einheitlichen Mindestkriterien offenlegen. „Alles Forderungen, die in der Petition gestanden sind“, sagt Lechleuthner. Aber weil Papier geduldig ist und es nun darauf ankommt, dass diese guten Vorsätze von der Regierung in die Tat umgesetzt werden, lässt das Aktionsbündnis nicht locker.

Die CSU-Abgeordnete Emmi Zeulner gehört der Opposition an, arbeitet aber „eifrig und ambitioniert in dieselbe Richtung wie wir“, sagt Lechleuthner bei der Zusammenfassung des Besuchs. Zu guter Letzt stand auch noch ein Treffen mit Jürgen Dusel, dem Behindertenbeauftragter der Bundesregierung, auf dem Programm. Auch er sei „voll drin in der Thematik“ gewesen, berichtet Lechleuthner. Dusel kenne die Petition genau und kritisiere an der gegenwärtigen Praxis, dass es eigentlich gute Regelungen gebe, diese aber mangelhaft in die Tat umgesetzt würden. Weil die Behörden den gesetzlichen Rahmen leider nicht so leben würden wie sie es müssten, habe sich Dusel das Schwerstbehinderten-Thema auf die Agenda gesetzt. Das Motto „Demokratie braucht Inklusion“, hinter dem das Aktionsbündnis steht, stammt ebenfalls aus dem Dusel-Gespräch. Erste Verbesserungen seien, laut Lechleuthner, eigentlich leicht zu erwirken. Wer gegenüber den Krankenkassen vom Medizinischen Dienst verwehrte Hilfsmittel einklagen müsse, erhalte „überproportional häufig Recht“. Würde dieser Prozess besser gelenkt, verbessere sich automatisch viel. „Und Geld würde man dabei auch noch sparen“, ergänzt Lechleuthner, die ihre Gedankenspiele in einem Positionspapier zusammengefasst hat (siehe Kasten).

Die politische Arbeit ist nicht nur konkret, sie bereitet Lechleuthner, die daheim mit Korbinian selbst einen kleinen Buben mit schwersten Behinderungen großzieht, auch Freude. Bereits Ende Juni plant die Ärztin eine weitere Berlinrunde, bei der sie die FDP, mehrere Vertreter des Gesundheitsausschusses und Familienministerin Lisa Paus (Grüne) mit ins Boot holen will. Als „ein bisschen die Spaßbremse“ bezeichnet sie die SPD, die neben Kanzler Olaf Scholz auch den Gesundheitsminister stellt.

An Karl Lauterbachist schwer heranzukommen

„An den ist allerdings schwer ranzukommen“, beklagt Lechleuthner. Wirklich nachvollziehen kann sie nicht, dass sich Karl Lauterbach gegenüber dem Aktionsbündnis bislang rar macht. „Es gibt halt auch noch andere Thema als den Ukrainekrieg, Corona und die Inflation“, sagt sie. Die Versorgung der Schwerstbehinderten möge zwar nicht ganz so wichtig sein. „Aber sie wäre zumindest lösbar und damit ein Erfolgserlebnis für die Regierung“, ergänzt sie und hofft auf einen Bewusstseinswandel. Sie findet es zwar richtig, dass sexuell anders Orientierte und Angehörige weiterer Religionen im Mittelpunkt der Integrationswelle stehen. „Aber die Behinderten machen zehn Prozent unserer Bevölkerung aus“, erwidert Lechleuthner. „ Es wäre verkehrt, gerade sie bei diesem Prozess auszuklammern.“

Wie schwierig es allerdings ist, bei den Politikern in Berlin Gehör zu finden, zeigt ein Blick auf den Status der Petition. Ein Jahr nach Übergabe der Unterschriften steht dort immer noch: „im Sichtungsverfahren“. Passiert ist also noch gar nichts. Darüber kann Lechleuthner mittlerweile aber nur noch schmunzeln. „Die Petition war halt ein Zeichen nach außen, dass es uns gibt“, sagt sie. Sie habe auf diesem Wege viele Gleichgesinnte mobilisieren können. „Aber die eigentliche Arbeit, damit sich auch was ändert, die läuft jetzt anders ab. Und da sind wir inzwischen auf einem echt guten Weg.“

PK



DAS POSITIONSPAPIER DES AKTIONSBÜNDNISSES

Sieben Optionen sieht das Aktionsbündnis auf dem Weg zur Weiterentwicklung der Versorgung von Schwerstbehinderten mit Hilfsmitteln:

Klare Regeln zur frühzeitigen Bedarfsermittlung: Sie ist der ärztlichen Verordnung und den Entscheidungen der Krankenkasse zugrunde zu legen. Hilfreich könnte ein Erhebungsformular und eine Verankerung in der Hilfsmittelrichtlinie sein.

Einführung einer qualifizierten Verordnung nicht nur für bestimmte Personengruppen, sondern auch für Hilfsmittelgruppen.

Verzicht auf Prüfung durch den Medizinischen Dienst (MD), wenn eine Bedarfsermittlung und eine qualifizierte Verordnung durch eine spezialisierte ermächtigte Einrichtung (insbesondere ein Sozialpädiatrisches Zentrum) vorliegt.

Verkürzung von Prüfung und Genehmigung – auch durch Pflicht zur Kommunikation mit den Verordnern.

Sicherstellung der fachlichen, spezifischen Qualifikation der Sachbearbeitung und des MD, hier insbesondere Begutachtung durch einschlägige Fachärzte.

Die Versorgungsverträge der Krankenkassen dürfen einer wohnortnahen Versorgung nicht entgegenstehen.

Die Transparenz des Versorgungsprozesses sowie zum Leistungsgeschehen im Allgemeinen (Verfahrensdauer, Widersprüche) ist unerlässlich. Analoge Regelungen für die Versorgung nach Abschluss des 18. Lebensjahres und für vergleichbar betroffene Erwachsene erforderlich. Berufs- und Fachverbände werden in Vorschläge für Qualifizierungsmaßnahmen aller an der Hilfsmittelversorgung Beteiligten eingebunden.

PK