Neuschwetzingen
Von der Kurpfalz ins Donaumoos

Im Jahr 1802 kamen die ersten Siedler aus Schwetzingen und ließen sich im Donaumoos nieder. Was folgte, ist eine Geschichte voller Entbehrungen.

09.06.2022 | Stand 22.09.2023, 22:25 Uhr
Petra Benesch

Harte Zeiten: Menschen im Donaumoos bei der Kartoffelernte. Fotos: Benesch/Schmeißer/Haus im Moos

Neuschwetzingen – Der Karlshulder Ortsteil Neuschwetzingen feiert in diesem Jahr sein 220-jähriges Bestehen. Es war zu Napoleons Zeiten, als sich Familien aus der heutigen Partnerstadt Schwetzingen und Umgebung aufmachten, um im Donaumoos eine bessere Zukunft zu finden. Denn: Ihre Heimat, die Kurpfalz, war gezeichnet von den Koalitionskriegen. Die Bevölkerung litt unter wirtschaftlicher Not, die durch das verschwenderische Leben ihres Landesherrn, Kurfürst Karl Theodor, noch befeuert wurde.

Warum aber wählten sie das Donaumoos zum Ziel? Karl Theodor hatte Bayern 1777 geerbt und regierte seitdem als Kurfürst über Pfalz-Bayern. Zwischen beiden Ländern gab es keine Grenze mehr. Es war ein Doppelstaat entstanden. Da die schwarze Moorerde für sehr fruchtbar gehalten wurde, versprach sich der Wittelsbacher neue Einnahmequellen, wenn er die feuchte Fläche nur urbar machen und fleißige Menschen dort ansiedeln könnte.

Ohne Erlaubnis zur Ortsgründung

Er warb für dieses Vorhaben. Ein Programm zur Kultivierung des Raumes wurde aufgelegt, Arbeiter schufteten im Akkord, auch Kinder wurden für leichtere Aufgaben herangezogen, endlose Entwässerungsgräben gezogen. Alles sollte schnell und dabei möglichst kostengünstig vonstattengehen. Sogar eine Aktiengesellschaft wurde gegründet. Doch es hakte. Als Karl Theodor 1799 starb, war das Donaumoos zur Hälfte kultiviert. Gewinn hatte er keinen daraus ziehen können.

Sein Neffe und Nachfolger Kurfürst Max IV. Joseph hatte mehr Erfolg. Er versprach den Umsiedlungswilligen 1802 unter anderem Steuervorteile und die Befreiung vom Militärdienst. Letzteres auch für die Generation der Kinder. So machten sich im April 1802 die ersten zwölf Kurpfälzer Familien auf, das Glück im größten Niedermoor Süddeutschlands zu suchen. Davon waren sieben mit Genehmigung unterwegs; fünf der Familien hatten sich dem Zug inoffiziell angeschlossen. Die sieben angemeldeten Gruppen kamen im Sammellager „Stengelhof“ unter und bewirtschafteten von dort aus die ihnen entlang der Ach zugewiesenen Parzellen „auf dem Maxfeld“ – dem späteren Untermaxfeld. Die fünf ungeplant eingetroffenen Familien wurden zunächst im Mauthaus in Lichtenheim untergebracht. Schließlich erhielten sie weiter westlich liegend jeweils 15 Tagwerk Fläche und gründeten eine Kolonie, die sie erst Klein-Schwetzingen, später Neuschwetzingen nannten, da drei der fünf Familien aus Schwetzingen stammten. Die Namen dieser ersten Siedler lauteten: Centmayer, Kober, Räppel (in manchen Akten auch Räpple), Scholl und Ziegler.

1803 gesellten sich drei weitere Familien namens Schäfer, Reppler und Wimmer dazu. 1804 zählte die Kolonie sieben Häuser, in denen 37 Menschen lebten, zehn Pferde, 13 Kühe, zwei Rinder und 97 Schafe. Der Kern dieser alten Siedlung liegt dort, wo heute das Neuschwetzinger Schützenheim an der Ingolstädter Straße steht. An dieser Stelle befand sich einst auch die Schule, 1822 erbaut und nach mehrfachen Um- und Anbauten 1984 schließlich abgerissen. „Kinder unterschiedlicher Konfessionen durften hier gemeinsam die Schulbank drücken“, erzählt Siegfried Schäfer, direkter Nachfahre einer der ersten Siedlerfamilien. Seine Hofstelle grenzt an das Schützenheim an. Wie seine Familie und er selbst waren viele der Kolonisten evangelisch. Eine Kirche gab es für sie damals in Untermaxfeld.

Viele Kolonisten hielten nicht durch

Die offizielle Gründung von Gemeinden vollzog sich ab 1818 auf Basis der damaligen Gemeindeedikte. Bezogen auf Untermaxfeld wird 1821 Kaspar Schäfer aus Neuschwetzingen als Gemeindebevollmächtigter in einer Bekanntmachung der Königlichen Obersten Kreisstellen genannt. Das Leben im Moos war kein Honigschlecken. Es kamen mehr Neulinge, als das Gebiet verkraften konnte.

Die Lebensumstände waren hart. Schlechte Wetterbedingungen bis hin zu Umweltkatastrophen führten reihenweise zu Ernteausfällen. Die zugeteilten Gründe erwiesen sich als zu klein, als dass sie ihren Besitzern ein wirtschaftlich halbwegs gesichertes Einkommen hätten ermöglichen können. Auch war die schwarze Erde nicht so fruchtbar, wie ursprünglich angenommen. Viele Kolonisten zogen deshalb weiter ins Ausland oder kehrten in ihre alte Heimat zurück. Einige gerieten auf die schiefe Bahn. Den Neuschwetzingern ging es Überlieferungen zufolge noch vergleichsweise gut. Sie sollen sich gegenüber anderen Moossiedlern vorteilhaft abgehoben haben durch großen Fleiß und vorhandene Fachkenntnisse.

Die Feuerwehr ist der erste Verein

Die Mehrheit der sogenannten Mösler war auf Nebenverdienste angewiesen und übte sich mitunter im Torfstechen, Kalkbrennen, Korbflechten, Weben und Spinnen. Man versuchte, die Menschen zu unterstützen. 1824 wurde in Karlshuld beispielsweise eine Spinnerei errichtet. Auch gab es von 1895 bis 1920 eine Korbfabrik auf dem Gelände der heutigen Saatgutreinigungsanlage der Moorwirtschaft. 1898 wurde eine Moorversuchsanstalt ins Leben gerufen, um Forschungsarbeiten im landwirtschaftlichen Bereich zu systematisieren und Erfolge allen zugänglich zu machen.

Ein Brand in Neuschwetzingen führte 1900 zur Gründung der Feuerwehr, nachdem die Bevölkerung leidvoll feststellen musste, dass in näherer Umgebung „nicht die geringste Feuerlöscheinrichtung“ vorhanden war. Karlshuld und Untermaxfeld folgten dem Beispiel 1901 und 1902. Im Jahr 1907 gab es Überlegungen hinsichtlich einer Gemeindegebietsreform. Neuschwetzingen und Kochheim, die verwaltungstechnisch Untermaxfeld zugeordnet waren, sollten eine eigene Gemeinde bilden. Es wurde aber nichts daraus.

Als es wirtschaftlich vielleicht endlich einmal hätte bergauf gehen können, kamen der Erste Weltkrieg und die Inflation dazwischen. 1937 unternahm Karlshuld einen Versuch, Neuschwetzingen in das Gemeindegebiet einzugliedern. Aber weiterhin blieb alles beim Alten. Dann brach der Zweite Weltkrieg aus.

Neuschwetzingen wird eingemeindet

Nach dem Krieg griff die Motorisierung auf dem Land verstärkt um sich. Während die Bauern zuvor mit Pferd und Ochs, später mit Lohnunternehmen zusammengearbeitet hatten, konnten sie sich nun nach und nach eigene Maschinen leisten. Das brachte bald Mägde und Knechte in arge Bedrängnis. Ihre Arbeitskraft war zu teuer, auch waren sie deutlich langsamer als die Technik. Sie mussten auf Dauer weichen. Gesellschaftsstrukturen veränderten sich. 1950 ging in Neuschwetzingen der Schützenverein Edelweiß an den Start. 1970 schließlich wurde Neuschwetzingen in die Einheitsgemeinde Karlshuld aufgenommen. Aktuell leben in der Kommune mehr als 6000 Menschen, davon rund 550 im Ortsteil Neuschwetzingen.

Die ehemaligen Moorböden eigneten sich gut für Wiesenflächen und damit verbunden die Viehhaltung und -zucht. Mit manchen Feldfrüchten hatten die Bauern nach einigen Versuchen besonderen Erfolg. Unterschiedliche Getreidesorten gediehen gut und Gemüse, darunter vor allem die Kartoffel. Heute ist der Landkreis Neuburg-Schrobenhausen in Süddeutschland das größte zusammenhängende Anbaugebiet für dieses Gemüse.

Aus Freunden werden Partner

Auch Landwirt Siegfried Schäfer baut in Neuschwetzingen Kartoffeln an. Dass er heute noch dort ackert, darauf ist der 76-Jährige stolz. Natürlich hat er auch nachgeforscht, ob es noch Verwandtschaft in Schwetzingen gibt. Aber: „Leider nichts zu finden“, sagt er. Trotzdem pflegt Schäfer die Verbindung zur ursprünglichen Heimatstadt. Mehr noch: Er initiierte 2018 gemeinsam mit der Schwetzingerin Linni Heimburger die offizielle Städtepartnerschaft zwischen Karlshuld und Schwetzingen.

Kontakte zwischen den beiden Kommunen hatte es in den vergangenen 220 Jahren immer wieder mal gegeben, doch blieb der Austausch stets auf einzelne Aktionen beschränkt. Bis 1988 Heimburger auf einer Tour auf dem Donauradweg zufällig Neuschwetzingen entdeckte und Schäfer kennenlernte. Gemeinsam begannen sie nachzuforschen, rollten die Siedlungsgeschichte auf und legten den Grundstein für ein nachhaltig gestaltetes Miteinander. Seitdem herrscht reger Austausch: Abordnungen einzelner Vereine besuchen einander, man feiert zusammen etwa bei Drescherfest, Spargelessen oder Maibaumaufstellen. Zu Ehren der Partnerschaft entstand 2021 der „Schwetzinger Platz“. Dazu wurde die Fläche vor dem Neuschwetzinger Schützenheim umgestaltet und frisch angelegt – in Eigenleistung von Vereinsmitgliedern und bezuschusst durch die Gemeinde Karlshuld. Die Anlage ziert nun unter anderem ein schmuckes Bushäuschen, kreiert von Siegfried Schäfer. Farbige Fensterscheiben berichten über beide Kommunen. Darunter platziert befindet sich eine auffällig gestaltete Motivbank, das Geschenk aus Schwetzingen zur Einweihungsfeier des Platzes.

Zusammengewürfelt, aber mit gemeinsamer Geschichte

„Wir, das ganze Donaumoos, sind ja doch ein zusammengewürfelter Haufen. Wenn ich dahinter eine verbindende Geschichte habe, gehört das gefördert und erzählt, um es zu bewahren. Die Jungen sollen wissen, dass da eine Gemeinsamkeit da ist“, erklärt Lothar Schmeißer, Mitglied im Gemeinderat und Vorsitzender des ebenfalls 2021 ins Leben gerufenen Partnerschaftsvereins. Auch Schäfer ist als Beisitzer aktiv. Aufgabe des Vereins ist es, die Partnerschaften Karlshulds zu pflegen durch Planung und Organisation verschiedener Aktivitäten. Neben der Verbindung zu Schwetzingen unterhält Karlshuld eine Partnerschaft mit der serbischen Gemeinde Beška.

Die Zeiten wandeln sich: Heute wird bedauert, dass das einst rund 18000 Hektar umfassende Donaumoos zwischen Ingolstadt, Neuburg und Schrobenhausen zusehends schwindet. Weiß man doch, dass Moore weltweit doppelt so viel Kohlenstoff speichern als alle Wälder zusammengenommen. Dabei bedeckt der Wald 31 Prozent der Erdoberfläche, das Moor nur drei Prozent. Renaturierung steht angesichts des Klimawandels auf dem Programm. Aber auch für die Energiewende macht man sich stark – beispielsweise mit dem Projekt „Energie und Wasserstoff“. Dabei geht es um die Erzeugung erneuerbaren Stroms und die Errichtung von Photovoltaik-Freiflächenanlagen im Ökosystem Donaumoos. Dass Landwirte, deren Vorfahren das Areal in Schwerstarbeit über Jahrhunderte hinweg urbar machten, von manchen Vorhaben nicht begeistert sind, ist verständlich.

Einen eindrucksvollen Einblick in die Besiedlungsgeschichte des Donaumooses und das harte, entbehrungsreiche Leben seiner Kolonisten bietet das Karlshulder Freilichtmuseum „Haus im Moos“. Für fünf Euro gibt es in der Gemeindeverwaltung außerdem das Buch „Geschichte eines Kolonistendorfes im Donaumoos – Neuschwetzingen 1802 - 2002“.

DK