Kleinkunstbühne Ehekirchen
Satzbau-Akrobat Sven Kemmler träumt von Demokratie ohne lästigen Kapitalismus

23.03.2023 | Stand 17.09.2023, 0:37 Uhr

Sven Kemmler entwickelt seine Sketche in ausgetüftelten Satzkonstruktionen. Foto: Budke

Mit Indianer-Kopfschmuck und oberkörperfrei – wie auf seinem aktuellen Plakat zu sehen – trat Sven Kemmler im Gasthaus Daferner nicht auf. Das brauchte er auch nicht, denn die Stärke seines Programms „Paradise Lost – Die Zukunft der Demokratie“ entfaltet sich nicht in schneller Effekthascherei. Kemmler unterhielt mit Hintersinn das Publikum der Kleinkunstbühne des Grünen Dorfkreises e.V. bestens. Unaufgeregt wirkt er in Karohemd, eine Bühnendekoration gibt es praktisch nicht – bis auf den Tisch, an dem er sitzt. Wie auf dem Plakat trete er nur im Sommer auf, erklärt er dem Publikum kurz augenzwinkernd. Dann beginnt sein Programm mit einer Ansage, die minutenlang vor Risiken und Nebenwirkungen warnt und mit der er jegliche Verantwortung für Schäden von sich weist. Tatsächlich gibt dieser Audio-Beipackzettel einen Vorgeschmack auf die Themen, die Kemmler in den kommenden eineinhalb Stunden ganz in Ruhe aufbereitet.

Was ist eigentlich Freiheit?



Über die Demokratie möchte der Schwabinger Kabarettist sprechen, denn „man hört ja, sie ist in Gefahr.“ So nimmt er erstmal Klimawandel, Greta Thunberg, Inflation, Freiheit, Trump und Biden – sehr schön Kemmlers „Herbstlaub“-Gedicht über den alternden Präsidenten – ins Visier oder die „gelebte Demokratie“, die er in Zitaten auf Facebook, Google-Bewertungen oder Spotify gefunden hat. All das bringt ihn letztlich zu der Schlussfolgerung: „In einer optimalen Demokratie sollte man erstmal die Wahlen abschaffen.“ Was Freiheit ist und ob diese überhaupt das Glück bringt, will Kemmler wissen. Wirklich genial dazu sein Podcast, in dem er George Washington und Thomas Jefferson zusammen mit einem FKK-Campingplatzbetreiber aus dem Ruhrpott an einen Tisch setzt und über Sklaverei, Glück und Nacktheit philosophieren lässt. Da stellt sich die Frage: Ist „Paradise Lost“ überhaupt die richtige Prämisse oder waren wir vielleicht noch nie im Paradies der Demokratie? Im Publikum wird zustimmend genickt und herzlich gelacht.

Ausgetüftelte Satzkonstruktionen



Nach der Pause offenbart der Kabarettist seinen Traum: „DOK – Demokratie ohne Kapitalismus“. Und er entlarvt sich selbst als „ignoranten Kolonisten-Arsch“, dessen Hirn angesichts eines Schlümpfe sammelnden Salafisten ein „spontanes Schleudertrauma“ erlitt. Zum Glück entdeckt er: „Was riecht denn hier so gut? Das ist Bildung!“ Kemmlers Szene über den „Issey Miyake-Duftbaum ,Bildung‘ mit dem ‚Duft der Aufklärung‘“ ist eines der Highlights im Programm.

Kemmler entwickelt seine Sketche in ausgetüftelten Satzkonstruktionen, die dem Publikum durchaus ein gewisses Maß an Konzentration abverlangen. Manchmal könnte sein Auftritt etwas mehr Tempo vertragen, spontaner wirken. Ein erhobener Zeigefinger oder effektheischendes Gemotze und Geläster sind nicht sein Stil, Kemmler hat einen konstruktiven Ansatz und empfiehlt Höflichkeit. Das Publikum applaudiert lang. Kemmler gibt eine lockere Zugabe und steht danach am Ausgang für Gespräche zur Verfügung.

„Die 30 machen wir voll“



Im 27. Jahr befindet sich die Kleinkunstbühne des Grünen Dorfkreises e.V. inzwischen, wie Organisator Paul Utz eingangs erzählte und versprach: „Die 30 machen wir auf jeden Fall voll.“ Er wünschte sich, dass mit Blick auf den nicht ausverkauften Saal „der Schwung noch ein bisschen wiederkommt.“ Immerhin haben die Ehekirchener Organisatoren die nächsten Termine mit Mathias Kellner und Mathias Tretter festgezurrt. Auch Stefan Waghubinger, dessen Auftritt mehrmals abgesagt werden musste, wird heuer im Herbst endlich auf der Bühne stehen. Und an etwas Neuem arbeiten die Kleinkunstfreunde: Sie möchten Achim Bogdahn, Autor von „Unter den Wolken“, der eine Deutschlandreise auf die höchsten Berge aller 16 Bundesländer unternommen hat, zu einer Lesung einladen.

DK