Von Karl Leitner
Ingolstadt – Die Vorfreude ist groß. Nach zweijähriger Zwangspause wegen Corona wird endlich wieder – einer guten vorweihnachtlichen Tradition entsprechend – Enrico de Parutas nach Ludwig Thomas berühmter „Heiligen Nacht“ gestaltetes szenisch-musikalisches Bühnenwerk gleichen Namens in Ingolstadt aufgeführt. Bis auf den letzten Platz ist der hiesige Theaterfestsaal gefüllt und de Paruta begrüßt sein Auditorium wie gute alte Bekannte, die man nach längerer Absenz endlich wieder sieht.
Der adventliche Abend aber nimmt seinen Anfang bereits lange vorher. Bis sich die Türen öffnen, verkürzen die Ettinger Musikanten und ein Alphorn- Quartett den Besuchern die Wartezeit mit adventlichen Weisen, eine überaus sympathische Geste und eine ideale Einstimmung auf das Weihnachtssingen im Saal. Das beginnt überraschenderweise bereits zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit, als noch viele Besucher bei großem Saallicht nach ihren Plätzen suchen, so dass den musikalischen Prolog leider nicht alle mitbekommen. Das ist schade, denn bereits der lässt erahnen, über welch hohe Kompetenz die Musikanten, Sänger und Sängerinnen verfügen.
Die Veranstaltung ist Teil der Aktion „Vorweihnacht der guten Herzen“ des DONAUKURIER, weswegen auch je ein Euro pro Eintrittskarte gespendet wird, an diesem Abend also immerhin 1200 Euro. Alljährlich wird auch der DK-Sonderpreis ausgelobt für besonders talentierte Kinder aus dem Verbreitungsgebiet der Zeitung, die beim Gesangswettbewerb der Engelsstimmen und der Vergabe des Nachwuchsförderpreises des musica Bavariae e.V. erfolgreich waren. Markus Schwarz, Chef der Lokalredaktion, kann die Preise an Maria Stockmeier aus Reichertshausen für das Jahr 2020 und an Annamaria Huber aus Thalhausen bei Altomünster für 2022 überreichen.
Ludwig Thoma (1867–1921) mag selber als Person nicht unumstritten sein, seine in Reimform verfasste „Heilige Nacht“ allerdings gilt als eines der wichtigsten Werke traditioneller bayerischer Literatur und bayerischer Volkskunst gleichermaßen. Es gibt wohl kaum jemanden, der die berühmten Zeilen „Im Wald is so staad, alle Weg san vawaht“ nicht schon einmal gehört hätte. Vielfach veröffentlicht, in Szene gesetzt, vorgelesen, für CDs und Hörspiele eingespielt, ist die Heilige Nacht quasi ein Standardwerk für die Vorweihnachtszeit im Freistaat. Und hat trotzdem nichts von seiner Faszination eingebüßt. Natürlich kennt man die Handlung im Grunde auswendig. Thoma hat sie nach der Vorlage aus dem Lukasevangelium geschrieben und 1917 veröffentlicht. Die Besonderheit ist, dass er dafür den bairischen Dialekt benutzte und den Ort der Handlung aus Judäa nach Bayern verlegte, weswegen es auch nicht verwundert, dass in Betlehem Schnee liegt, im Wald Fuchs und Hase leben, seine Figuren Simmei und Hansei heißen und Herbergen Zum Lamplwirt, Zum Bräu und Zur Post.
Was Enrico de Paruta vor nunmehr 25 Jahren aus dem Stoff gemacht hat und seither auf die Bühne bringt, ist absolut bemerkenswert. Er ist nicht nur zuständig für das Konzept und hat die künstlerische Leitung inne, sondern fungiert auch als Erzähler, der die Handlung vorantreibt, und ist als Rezitator Thomas absolut in seinem Element. Er fühle sich am wohlsten in der „Rolle des Beobachters, des hinterkünftigen Erzählers, der alle Figuren der Heiligen Nacht aus sich heraus entwickelt und sie wie Marionetten führt“, wie er 2021 in einem Interview sagte. „Mich blitzschnell in sie zu verwandeln, deren Haltung und Sprache anzunehmen, entwickelt ein gewisses Suchtpotenzial. Stimme, Mimik, Gestik – mehr Gepäck brauch ich nicht.“ Wenn er in die Rolle der boshaften Gattin des Josias schlüpft und gleich darauf in die des braven Simmei, dann merkt man, wie recht er damit hat.
Dramaturgisch überaus geschickt sind die Phasen des Erzählens und die des Singens und Musizierens miteinander verwoben. Hier greift das straffe und auf verschiedene Vorlagen basierende Konzept optimal. Franz Schubert, Johann Sebastian Bach und Mauro Guiliani kommen vor, häufig werden Volksweisen integriert, Thoma und de Paruta selbst haben ihre Spuren hinterlassen. Dass ausnahmslos alle Ausführenden, ob Solisten oder nicht, in handwerklicher Hinsicht über jeden Zweifel erhaben sind, ist das eine und offensichtlich, die Inszenierung das andere. Auch an der souveränen gestalterischen Vorgehensweise, bei der alles minutiös geplant ist, dies aber nicht auffällt, merkt man, dass hier nicht nur einer der üblichen vorweihnachtlichen Abende stattfindet, sondern eine in jeder Hinsicht professionelle Inszenierung, ein szenisches Werk, das wegen seines Themas nicht nur zu Herzen geht, sondern auch als Kunstwerk besticht. Und das, obwohl die Produktion wegen ihres Tourneecharakters außer einigen Accessiores ohne echtes Bühnenbild auskommen muss.
Am Ende kommt Thoma zu dem Fazit: „Und fragt’s enk, ob dös nix bedeut’, dass’s Christkind bloß Arme g'sehn'g hamm.“ Dies gilt auch heute noch. Jene Zeilen ein paar Seiten weiter vorne im Original aber sind mindestens genauso brisant. „Ja, Gott in der Höh sei die Ehr! Und Frieden den Menschen herunt!“ Thoma schrieb sie vor dem Hintergrund der Gräuel des Ersten Weltkriegs. Seit der Urfassung von vor gut hundert Jahren war dieser Wunsch immer wieder hochaktuell. So wie leider jetzt auch gerade.
DK
Noch in diesem Jahr können Karten für das Weihnachtssingen Heilige Nacht 2023 erworben werden: ab dem 12. Dezember, 9 Uhr, an allen Vorverkaufsstellen und bei Eventim im Internet. Kartentelefon: (01806) 570070 (0,20 Euro aus deutschen Netzen). Online: www.heilige-nacht.com
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