Experten geben Tipps
Übertrittszeugnisse lösen in vielen Familien Ängste und Konflikte aus

06.05.2023 | Stand 16.09.2023, 22:35 Uhr

Übertritt geschafft: Feierliche Begrüßung der Fünftklässlerinnen und Fünftklässler am Gymnasium Gaimersheim 2022. Foto: DK-Archiv

Gemäß Paragraf 6 der Bayerischen Grundschulordnung stand dem Mädchen der Weg dorthin offen, was vielen in der Gesellschaft als das Höchste gilt: das Gymnasium. Doch Marie-Christin Kroll mochte nicht. Vor einem Jahr hat sie in der vierten Klasse ihr Übertrittszeugnis bekommen. Schnitt 2,0. Die Grenze für den Wechsel an ein Gymnasium liegt bei 2,33. „Ich wollte aber unbedingt auf die Realschule“, erzählt die Ingolstädterin. „Ich wollte nie was anderes! Denn das Gymnasium soll anstrengend sein, mit viel Unterricht am Nachmittag.“ Darauf könne sie echt verzichten.

Klassenkameradinnen hätten sich gefreut, wenn sie mit ihnen aufs Gymnasium gegangen wäre. Doch Marie-Christin Kroll blieb dabei: Kommt nicht infrage! Trotz ihrer guten Noten. „Meine sehr nette Klassenlehrerin hat mich toll beraten.“ Die Schülerin trat auf die Ickstatt-Realschule über – und ist dort glücklich.

• Jedes Jahr im Mai die gleiche AnspannungAm 2. Mai haben wieder alle Viertklässlerinnen und Viertklässler ein Übertrittszeugnis bekommen. Mit einer Empfehlung, für welche Schulart sie geeignet sind. Doch die aus Mathematik, Deutsch sowie Heimat- und Sachunterricht errechneten Notenschnitte sind streng verbindlich: Realschule bis 2,66. Gymnasium bis 2,33, mit der Option des Probeunterrichts, eine sanfte Bezeichnung für eine Aufnahmeprüfung, die viele Kinder nicht bestehen.

Wer an diesen Hürden scheitert, muss auf die Mittelschule. Sie steht in der Ansehens-Hierarchie der Schularten in Bayern abgeschlagen auf Platz drei, von Vorurteilen geplagt, zu Unrecht schambesetzt, vom prestigereichen Gymnasium überstrahlt. Die Realschulen rangieren irgendwo in der Mitte dieses Image-Rankings.

• Es muss nicht unbedingt das Gymnasium sein

Maries Mutter Sandra Kroll-Gabriel hat die Entscheidung ihrer Tochter für die Realschule unterstützt. Sie kann alles, was mit dem überaus bedeutungsvollen, oft von Konflikten und Ängsten begleiteten Übertritt zusammenhängt, gut beurteilen, denn sie ist Lehrerin an der Grundschule Gerolfing, Staatliche Schulpsychologin und Beratungsrektorin. „Kinder sind noch zu klein, um die Tragweite des Übertritts zu erkennen“, sagt sie im DK-Gespräch.

• Eltern und Kinder stehen unter starkem sozialen Druck

Sandra Kroll-Gabriel kennt den Erwartungsdruck, der viele Kinder erfasst, wenn der Übertritt auf sie zukommt, weiß um die Dramen, die sich in Familien abspielen, wenn ein Kind unbedingt auf das Gymnasium soll, aber die Leistungen nicht ausreichen. Oder wenn Kinder mit mittleren Noten von der Realschule träumen, jedoch an der Grenze scheitern, die das bayerische Schulsystem setzt. „Das ist keine gute Dynamik“, sagt Sandra Kroll-Gabriel. „Ich habe das immer als sehr belastend empfunden. Wer schafft den Übertritt? Wer bleibt übrig?“ Diese strikte Auswahl bekämen die Kinder ganz genau mit. Eine bittere Erfahrung, die den Leidensdruck verstärke.

Doch die Schulpsychologin entkräftet auch Klischees über uneinsichtige, allzu ehrgeizige Väter und Mütter. „Es ist unsere Gesellschaft, die den sozialen Druck erzeugt, unter dem viele Eltern stehen. Der Druck, das Kind auf ein Gymnasium zu schicken.“ Nicht nur in Familien löse der Übertritt Anspannung aus. „Wir leiden mit“, erzählt die Lehrerin. „Wir haben auch mal schlaflose Nächte, weil wir uns fragen: Bieten wir genügend Chancen? Haben wir wirklich alles für die Kinder getan?“ Das beschäftige sie sehr. „Denn ich will meinen Blick auf die Kinder nicht verlieren. Ich will nicht die böse Lehrerin sein, die schlechte Noten verteilt. Schließlich übe ich meinen Beruf aus Idealismus aus!“

So wie Alisa Steiger, Lehrerin an der Grundschule Etting und Beratungslehrerin. Sie berichtet: „Es ist unglaublich, wie Eltern angeschaut werden, deren Kinder auf die Mittelschule gehen!“ Doch diese Schulart sei für viele Kinder die perfekte, sie fördere genauso Talente. Eines dürfe niemals passieren, betonen die Lehrerinnen: Dass die drei Schularten gegeneinander ausgespielt werden. „Denn alle sind gleichwertig!“

Karin Leibl, die dritte Lehrerin in der Runde, kritisiert ein aus ihrer Sicht strukturelles Defizit: „Die Lernentwicklungsgespräche in der Grundschule sind eine gute Sache“, sagt die Kreisvorsitzende des BLLV. Doch in der vierten Klasse gebe es keine mehr. „Denn dann steht ja der Übertritt an.“ Mit all seinen Schwierigkeiten.

• Wie vermeidet man Übertrittsdramen?Sich früh mit diesem Thema beschäftigen, rät Sandra Kroll-Gabriel. Und die Eltern rechtzeitig beraten. „Sie bekommen von mir einen Beobachtungsauftrag: Sie sollen sich ihr Kind ein halbes Jahr gut anschauen.“ Im Gespräch über Arbeitsweise und Lernverhalten stelle man dann gemeinsam fest, „wo das Kind Schwierigkeiten hat“, sagt Steiger. „Es ist wichtig, nicht nur die Noten zu betrachten. Eltern dürfen nie das Vertrauen in die Lehrkräfte verlieren!“

Tage der offenen Tür in Mittelschulen seien eine Chance, schöne Begegnungen zu ermöglichen und Vorurteile abzubauen, so Kroll-Gabriel. Die Schulfamilien könnten sich sowie ihr Lernumfeld präsentieren und zeigen, wie viele Chancen die Mittelschule bietet.

• Und wenn Eltern sich doch gutem Rat widersetzen? „Dann regelt sich das leider von allein“, sagt Alisa Steiger. „Denn die Schulart muss zum Kind passen.“ Ist es überfordert, droht das Scheitern. Begleitet von häuslichen Dramen, vielen Tränen und schlaflosen Nächten. Nicht wenige Schüler, die das Gymnasium verlassen müssen, seien derart frustriert und entmutigt, dass sie es auch an der Realschule nicht schaffen – sofern sie dort überhaupt aufgenommen werden. Misserfolg folgt auf Misserfolg.

Das alles müsse nicht sein. „Wir möchten Freude am Lernen vermitteln und beraten“, sagt Alisa Steiger. „Doch inwieweit das angenommen wird, ist nicht zuletzt auch eine Frage der Gesellschaft.“