stadtgeflüster
Die Schätze der großen Vitrine

20.03.2019 | Stand 02.12.2020, 14:23 Uhr

(ada) Seit uns das weltweite Netz umgibt, ist es ja unglaublich einfach geworden an Informationen zu gelangen oder Wissen abzurufen.

Meist genügen ein paar Eingaben auf dem Computer oder ein wenig Tippen auf dem Smartphone und man bekommt Auskünfte in jeder gewünschten Menge und Art. Immer öfter genügt dabei auch eine einfach in den Raum gerufene Frage und es antwortet einem eine computeranimierte Dame mit einem harmlos klingenden Namen und teilt einem mit, was man wissen will. Dass diese harmlosen Computerdamen dabei auch alles andere mithören können, was in einem Raum so gesagt und getrieben wird, scheint dabei die Wenigsten zu stören.
Noch vor wenigen Jahrzehnten war das alles völlig anders. So erinnert sich der Schreiber dieser Zeilen noch gut an seine ersten journalistischen Versuche beim DK in der Mitte der 1980er-Jahre. Wenn man damals zum Beispiel für eine Recherche wissen wollte, wie hoch der Kilimandscharo ist oder wie viele Einwohner Düsseldorf hat, musste man in einem Lexikon nachschlagen. Dazu musste man das Archiv aufsuchen, wo ein Archivdirektor, unterstützt von zwei Assistentinnen, seines Amtes waltete. Dem trug man dann sein Anliegen vor, worauf einen der Archivar gemessenen Schrittes zu einer großen und langen Glasvitrine geleitete. Hier lagerten, gut geschützt und eingeschlossen, die bibliophilen Kostbarkeiten des DK: Vielbändige Brockhaus-Lexika in mehreren Ausführungen und aus verschiedenen Jahrzehnten, darunter auch eine Ausgabe in Goldschnitt, ein ebenso vielbändiges Meyers-Lexikon und - wenn die Erinnerung nicht trügt - sogar eine Encyclopaedia Britannica. Für den Hausgebrauch gab es ein Bertelsmann-Lexikon und diverse Atlanten.
Nachdem man dann den passenden Band herausgesucht hatte, durfte man an einem kleinen Tischchen Platz nehmen, das Gewünschte nachschlagen und sich pflichtschuldigst Notizen machen. Dann wurde das Lexikon vom Herrn des Archivs wieder in die Vitrine eingeschlossen, um es vor unbefugtem Zugriff zu schützen. Wehe, wenn man da etwas vergessen hatte. Denn da begann die ganze Prozedur aufs Neue. Eine Auszeichnung war, wenn man sich so viel Vertrauen des Archivars erarbeitet hatte, dass man den benötigten Lexikon-Band mit an seinen Schreibtisch nehmen durfte.
Kein Wunder, dass der Siegeszug des Online-Lexikons Wikipedia trotz mancher inhaltlicher Vorbehalte nicht aufzuhalten war. Und genau dieses wird am heutigen Donnerstag in Deutschland für einen Tag abgeschaltet. Grund ist ein Protest gegen die neuen EU-Urheberrechtsbestimmungen. Wir sind schon gespannt, was wir heute machen werden, wenn wir plötzlich wissen wollen, ob der Amazonas oder der Nil länger ist oder wann der Bürgermeister von Viechtach Geburtstag hat. Auf die Suche nach der großen Vitrine brauchen wir uns dabei allerdings nicht zu machen. Denn die ist schon vor Jahren abgebaut worden und samt Inhalt vermutlich in den tiefen Kellern des Verlagsgebäudes verschwunden.