stadtgeflüster
Von der Kunst in der Politik

09.05.2018 | Stand 02.12.2020, 16:25 Uhr

(rh) Was in den Köpfen von Künstlern mit Doppel- oder Mehrfachbegabung vorgeht, werden wir im bescheidenen Rahmen dieses Stadtgeflüsters wohl nicht zur Gänze ergründen können.

Hätte der Lyriker Gottfried Benn sein berühmtestes Gedicht "Einsamer nie als im August" vielleicht ganz anders eingeleitet, wenn er nicht als Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten in Berlin praktiziert hätte. Hätte er als beamteter Oberstudienrat für Germanistik eher ein frühlingshaftes "Einsamer nie als im April" gedichtet. Man weiß es nicht.

Benns Kollege Goethe konnte sich nicht einmal selbst so recht entscheiden, für welches seiner zahlreichen genialen Talente ihm die Nachwelt dereinst mehr Ruhm schulden würde. So wirkte er zum Beispiel mit unterschiedlichem Erfolg unter anderem als Dramatiker, Naturwissenschaftler, Theaterintendant, Reiseschriftsteller und Regisseur. Was man hat, das hat man, dachte der studierte Jurist und flankierte sein geniales Treiben sicherheitshalber mit einer üppig dotierten politischen Karriere am Herzoglichen Weimarer Hof. Allein für den spektakulären Flop des Ministers Goethe bei einer Bergbaukatastrophe im thüringischen Ilmenau müsste Bundeskanzlerin Merkel heutzutage ihren getreuen Peter Altmaier aus dem Kabinett werfen. Aber der Mann schreibt vermutlich auch keine so schönen Liebesgedichte wie Goethe.
Die sauberste Lösung, damit sich ein Mensch als Künstler und Politiker gar nicht erst selbst im Weg stehen kann, wählte damals die Ingolstädter Malerin Gerda Biernath. Wenn sie ihr Atelier in der Innenstadt nach getaner Kreativarbeit verließ und zur Fraktionssitzung der SPD an den Unteren Graben eilte, wurde sie unversehens zur Stadträtin Gerda Büttner - ein frappierender Vorgang, den die Theologen in ihrer Fachsprache Transsubstantiation nennen.

Ein ähnlich wundersamer Wandlungsprozess geht regelmäßig in einem noch amtierenden Mitglied der CSU-Stadtratsfraktion vor sich. Ohne Eva-Maria Atzerodt zu nahe treten zu wollen, gewinnt der neutrale Beobachter von ihr den Eindruck, als wäre die Musiklehrerin, vielfach verdiente und ausgezeichnete Chorleiterin irgendwann nur aus Versehen in den schnöden Politikbetrieb geraten, als wären all die langatmigen Ausschuss- und Stadtratssitzungen für sie vertane Zeit, die sie viel lieber mit Johannes Brahms und Felix Mendelssohn Bartholdy als mit Albert Wittmann und Christian Lösel verbracht hätte.

Doch kaum steht die Musikerin - sie wird am 27. Mai 50 Jahre alt - vor einem startbereiten Gesangsensemble, das auf ihren Einsatz wartet, hat sie schon vom Zaubertrank der Begeisterung geschlürft. Dann ist diese Frau nicht mehr wiederzuerkennen und sprüht vor Temperament wie am Samstag beim Frühjahrskonzert in der Matthäuskirche. Der Himmel bewahre uns davor, dass die Leiterin des Jugendkammerchors eines Tages nicht mehr Eva-Maria, sondern nur noch Alexa heißt.

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