Ist träumen Kunst?
Schlaflos im Kunstverein

„Nachts“: In der neuen Ausstellung in der Ingolstädter Theatergalerie machen die Besucher die Kunst

07.05.2023 | Stand 16.09.2023, 22:32 Uhr

Der Ausstellungsbesucher wird selbst zum Künstler. Foto: Weinretter

Bei dieser Ausstellungseröffnung ist alles anders. Im Galerieraum verbreiten nur vier Strahler dämmriges Licht. Kinder hüpfen wild auf Luftmatratzen, während Aiko Okamotos Sound durch das Grau wabert. Eröffnungsreden? Gestrichen. Die Besucher sind beschäftigt. Denn am Eingang bekommt jeder eine Kreide in die Hand gedrückt. „Nachts. Im Kunstverein“ ist eine interaktive Ausstellung, die mit graugestrichenen leeren Wänden und vielen Fragen begann und bis zum 25. Juni ihrer Vollendung entgegenstrebt.

Der Betrachter wird zum Akteur, kann seine Gedanken zu Nacht, Schlaf, Dunkel, Geisterstunde und Traumgespinsten in Wort und Bild auf die Wände malen.

Eine Kooperation mit dem Jungen Theater Ingolstadt ist der Kunstverein für seine neue Schau eingegangen. Dort wurde das Projekt „nachts“ entwickelt – mit viel kreativem, philosophischem, musikalischem Input von zwei Grundschulklassen. Im Spannungsfeld von Alltag und Traumspiel, Romantisierung und Ängsten hat Regisseurin Julia Mayr zusammen mit einem vierköpfigen Schauspielensemble ein traumschönes Stück für alle Altersstufen entwickelt.

Spindeldürre Papierwesen werfen skurrile Schatten

Nicht nur das Thema „Nachts“ hat nun der Kunstverein für sein interaktives Ausstellungsprojekt aufgegriffen. Hier bekommt man auch Einblicke in den theatralen Entstehungsprozess der Arbeit. Die Gespräche mit den Kindern über Nacht und Tag, Universum und Unendlichkeit, Monster und Nachtmahre sind in Ausschnitten als Tonspur zu hören. Einige der Wesen, die sie gefertigt haben, begrüßen den Besucher gleich im Eingangsbereich der Theatergalerie. Knochenweiß, mit spindeldürren Extremitäten hängen und liegen sie da, mit Zacken und Schwänzen, langen Ohren und staunenden Augen. Wurzelwerk oder Geweih? Wie Gefährten von Jack Skellington (Nightmare before Christmas) muten sie an. Und bei diesen gedämpften Lichtverhältnissen bilden sich interessante Schattenspiele an den Wänden.

Sechs Matratzen sind im Raum verteilt. Auf grauen Spannbettlaken kann man Fragen lesen: Wer lebt in deinen Träumen? Was siehst du nachts? Wie sind Mensch, Tier und Natur in deinem Traum verbunden? Oder: Ist träumen Kunst? Kinder tollen darauf herum, Erwachsene nutzen sie als Sitzgelegenheiten. Alles erlaubt. Darüber hinaus bieten die Fragen Assoziationshilfen für den Besucher. Was beschäftigt mich nachts? Spannend ist es natürlich, in den Träumen der anderen zu spazieren. „Komisch, wer ist das in meiner Haut? Ein Monster?“, hat jemand an die Wand gemalt. Jemand anderes ein Ufo, das einen Erdbewohner in den Fangstrahl nimmt. An einem weit verzweigten Baum wachsen Traumfänger. Hier hat jemand ein Zelt auf dem Mond aufgeschlagen. Woanders müht sich Kafkas Käfer hilflos in Rückenlage. „Warum heißt Nacht Nacht?“, prangt in riesigen Buchstaben an der rückwärtigen Wand. „Warum heißt Morgen Morgen?“ findet sich links ein korrespondierender Spruch.

Auch Aiko Okamoto hat sich hier verewigt. Wo und was? „Ist geheim“, sagt sie. Sie steht bei der Vernissage am Freitagabend hinter den Plattentellern und legt auf. „Ich wollte etwas Außergewöhnliches. Denn nachts begegnet man doch dem Unerwarteten. Das wollte ich musikalisch abbilden.“ Als erste Platte hat sie deshalb „Tears And Teeth“ der Münchner Künstlerin Inga mit elektro-akustischen Klangwelten eingepackt – und 70 weitere dazu. Und beschallt jetzt den Raum mit Ambient und Sphärischem, mit schwebenden Melodien und verzerrten Echos.

Der zehnjährige Jonathan hat sich einen Platz für seine Lala Lugee gesucht. Ihr Bild schmückt den Ausstellungsflyer. Lala Lugee ist eine Fantasiegestalt, ein zartes durchsichtiges Wesen mit lauter Löchern. Der Name – den man übrigens „Lala Luutsche“ ausspricht – bedeutet so viel wie Durcheinander. Und entstanden ist sie, erklärt Jonathan, aus den Resten des Universums. Sie ist böse, aber auch weise und lebt ganz allein auf dem Mond.

Auch Paula ist eifrig: Eine Katze und einen Hasen hat die Vierjährige schon ganz unten an die Wand gestrichelt. Weitere Tiere sollen folgen. Zu Hause zeichnet sie nur auf Blätter. Deshalb findet sie es toll, dass man hier an die Wände malen kann. Das finden auch viele Erwachsene.

Diskussion über die Zukunft des Kunstvereins

Neben einem Begleitprogramm mit Workshops soll es übrigens auch einen offenen Austausch über die Zukunft des Kunstvereins geben. Ein Auszug aus einem Interview von Isabella Kreim über die Farbaktion „KEKS“ von 1970 mit Emmi Böck, Franz Kulinsky und Angelika Kulinsky findet sich als Projektion im Eingangsbereich der Galerie. „Der Kunstverein war ein lebendiger Treffpunkt, gerade für die jungen Leut“, heißt es da beispielsweise. Und wirft im Jahr 64 des Ingolstädter Kunstvereins die Frage nach der eigenen Bedeutung auf: Ist der Kunstverein als zentrale Vermittlungsinstanz für zeitgenössische Kunst ein Auslaufmodell? Wie könnte man ihn für die Zukunft ertüchtigen? Kurator Adam Langer bringt das mit einem Beatles-Zitat auf den Punkt: „Will you still need me, will you still feed me – When I’m sixty-four?“

DK


Galerie im Theater, bis 25. Juni, geöffnet Fr 15 bis 20, Sa 10 bis 20, So 13 bis 18 Uhr.