Es ist eine geniale Idee und ein großes Wagnis zugleich: Kristine Walther hat jahrelang mit den Texten Heinrich von Kleists gerungen, mit den ungeheuren Zwängen, Ängsten und Hoffnungen des jungen, aber erfolglosen Autors. Nun hat sie zusammen mit dem Regisseur Jürgen Skambraks ein Theaterstück daraus gemacht und zeigt den Zuschauern die verworrene Gedankenwelt des Autors, der sich mit 34 Jahren eine Kugel in den Kopf schoss. Aus Verzweiflung, weil ihm „auf Erden nicht zu helfen war“, wie er in seinem Abschiedsbrief bekannte. Im Altstadttheater öffnete Walter diese innere Welt eines der größten Schriftsteller deutscher Zunge und gestattete einen Spaziergang durch Kleists Kopf, durch jenes geistige Labyrinth, das uns fasziniert und erschreckt.
Gewirr aus Textcollage und dynamischer Bewegung
Das Bühnenbild ist spartanisch: eine geöffnete Kiste und links und rechts verschlungene rote Seile auf dem Boden. Die Zuschauer finden auf ihren Plätzen bunte Glassteine und rätselhafte Zettel vor – mit schneckenhausartigen Zeichnungen. Dies sind die Rück- und Ausblicke in Kleists Leben, die Verstrickungen und das Gefangensein seiner Protagonisten und des Autors selbst, die hier gegenständlich werden. Kristine Walter nimmt sie sehr wörtlich und wickelt sich immer wieder in diese Seile, wirft sie in stets neuen Anordnungen durch den Raum. Und das Publikum hat dieses Gewirr aus Textcollagen und dynamischer Bewegung zu dechiffrieren. Die Suche nach dem dramaturgischen roten Faden ist reizvoll, aber anstrengend, denn die Texte stammen alle von Kleist selbst. Und das 80-Minuten-Programm ist ein Parforceritt durch sein kurzes Leben und sein umfangreiches Werk. Und ganz nebenbei auch ein mnemotechnisches Kunststück der Schauspielerin.
Es entsteht das biografische Gerüst von Kleists Leben
Kleist wollte mehr sagen, als seine Zeitgenossen zu verstehen imstande waren. Walters Stück nimmt dieses Ringen um die Sprache und die Anerkennung als Künstler ernst und arrangiert die Auszüge aus seinen provokanten Stücken und innovativen Schriften, den schonungslosen Briefen und erschütternden Gedanken so, dass daraus zwar keine Handlung entsteht, jedoch das biografische Gerüst eines Lebens zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Schon früh zeigt sich Kleists gesellschaftliche Isolation, als er die Offizierslaufbahn abbricht und vom Onkel heftig kritisiert wird. Sonderbare Träume verheißen ihm literarischen Ruhm, der ihm nur jenseits der Vernunft möglich scheint, wenn Herz und Seele am Schreiben beteiligt sind: „Nimm Aug‘ und Ohr, Gefühl mir und Geruch, mir alle Sinn‘ und gönne mir das Herz, so lässt du mir die Glocke, die ich brauche,“ lässt er Alkmene im Lustspiel „Amphitryon“ ausrufen.
Unendliche Sehnsucht nach Glück und Erfolg treiben ihn um, den Rastlosen, der sich in einen Nachen legt, um sich in den Olymp zu träumen, und Bettelbriefe an Goethe schreibt, die dieser jedoch ignoriert, weil er an Kleists Drama „Penthesilea“ nur „Unschönes“ finden kann. Er rät ihm zur Mäßigung, doch genau dies kann Kleist nicht: Er sucht nichts anderes als die Wahrheit und will sich selbst „auf eine Stufe näher der Gottheit zu stellen.“
In Kleists literarischem Kosmos, den Kristine Walter entwirft, geht es um pädagogische Visionen und materielle Sorgen des Mittellosen, um die Freiheit des Menschen und die Borniertheit seiner Umwelt, um kompromisslose Liebe und Wahrheit, um Identität und Selbstfindung. Und immer wieder stößt er sich an jener Zivilisation, die sich in Großstädte wie Berlin einpfercht, statt ein Leben in der Natur zu führen. Denn dies erscheint dem Visonär als Ideal, wie jenes symbolische wilde Pferd, das einst ein „unerzogenes Kind der Natur“ war, jetzt aber durch menschliche Künste gezähmt wurde. „Wenn ich dich nur hätte,“ spricht Walters Kleist-Figur zu Beginn und am Ende des Solostücks zu einem Spielzeugpferd – und schafft damit ein biografisches Leitmotiv: die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit und Authentizität in einer entseelten Welt. Kleist konnte diese Sehnsucht nicht stillen und schrieb kurz vor seinem Selbstmord die denkwürdigen Zeilen: „Wenn der Tod inzwischen zu mir käme, so sollte es mir ziemlich gleichgültig sein.“ Kristine Walter mimte diesen Unglücklichen, der seiner Zeit so weit voraus eilte, voller Leidenschaft und Wortgewalt. Das Publikum spendete begeistert Applaus.
DK