Lesung
Poetische Lebensbilanz: Emine Sevgi Özdamar bei den Ingolstädter Literaturtagen

26.04.2023 | Stand 16.09.2023, 23:03 Uhr

Autorin Emine Sevgi Özdamar (links) sprach mit Moderatorin Katharina Erlenwein über ihren preisgekrönten Roman. Foto: Buckl

Eigentlich ist sie auch Schriftstellerin und Theatermacherin aus dem Regiefach. „Aber wenn mich jemand nach meinem Beruf fragt, sage ich Schauspielerin!“ Dieses Wort klinge viel schöner und gefalle ihr weit besser als „Autorin“. Bekenntnisse wie dieses legte Emine Sevgi Özdamar ab, als sie am Montag im Studio des Herzogkastens ihren Roman „Ein von Schatten begrenzter Raum“ vorstellte. Moderiert wurde die gut besuchte Literaturtage-Lesung von der Journalistin Katharina Erlenwein.

Allerdings musste man an diesem Abend um die Stimme der Autorin bangen, ständig wurde sie vom Hustenreiz übermannt und konnte vor Schniefen das Taschentuch kaum weglegen („da hat mich mein Mann angesteckt!“). Weder halfen Wasser und Wein noch Bonbons, die ihr eine Besucherin der ersten Reihe an den Lesetisch legte.

Zwischen Autobiografie und literarischer Inszenierung

In dem kolossalen Buch „Ein von Schatten begrenzter Raum“, legt die 1946 in der Türkei geborene Erzählerin, die 2021 den Bayerischen Buchpreis und voriges Jahr den Georg-Büchner-Preis erhielt, eine poetische Lebensbilanz vor. Sie erzählt von der Flucht der Ich-Protagonistin aus Istanbul übers Meer nach Europa, nachdem der türkische Militärputsch von 1971 dort das kulturelle Leben abgewürgt hatte („Sie haben Istanbul getötet. Aber auch der Leiche sah man noch die einstige Schönheit an!“), was der jungen Schauspielerin eine weitere Karriere in der Türkei unmöglich machte: „Ich verlor im eigenen Land die Muttersprache. Die Wörter wurden krank.“ Doch ist ein Land für sie keine Heimat: „Ich wohne in Wörtern und Menschen!“ In ihrem Buch ist es kaum möglich, zwischen Erzählstimme und Autorin zu differenzieren, permanent changiert das „Ich“ zwischen Autobiografie und literarischer Inszenierung, eine Trennung von Fakt und Fiktion funktioniert hier nicht.

1976 ging Özdamar, begeistert von den Stücken Brechts, als Regieassistentin an die Ost-Berliner Volksbühne, wo sie mit Benno Besson und Matthias Langhoff zusammenarbeitete. Bei ihrem Ingolstädter Auftritt spürt man noch Begeisterung, wenn sie den Mackie Messer-Song zitiert. Auch Georg Büchner wird zu einem ihrer literarischen Helden. Nächtelang verschlingt sie sein schmales Werk, bei der Lektüre Woyzecks denkt sie: „Ich schämte mich vor Georg Büchner, weil er mit zwanzig Jahren ein Revolutionär und Wissenschaftler war und so geniale Stücke geschrieben hatte und mit dreiundzwanzig so jung gestorben war und wir in Istanbul in seinem Alter so viel Zeit verloren.“ Claus Peymann hatte ihr die Augen für das Vormärz-Genie geöffnet, als sie mit ihm in Bochum arbeitete. Von den zahllosen Skizzen, die sie zum „Woyzeck“ angefertigt und zuhause aufgehängt hatte, war Peymann so begeistert, dass er das so ausgestattete Zimmer im Theaterfoyer nachbilden ließ.

Während sie in Ost-Berlin arbeitet, lebt sie im Westen der Stadt relativ mittellos in einer WG. „Ich brauchte keine Miete zu zahlen, aber ich musste ab und zu etwas Türkisches kochen!“ Anders als für Deutsche galt ihr die Mauer nicht als Hür aude: „Wenn es mir in der WG im Westen zu eng wurde, floh ich in den Osten“.

Autorin lässt Wände und Krähen sprechen

Mit Benno Besson kam Özdamar 1978 nach Paris, wovon die vorgetragenen Kurzkapitel „Liebe Edith Piaf“ und „Telefonzelle“ handeln. Darin finden sich anrührende poetische Passagen wie jene von der Begegnung mit einem „blinden, sehr schönen Mann“, den die Ich-Erzählerin in die Metro zieht. Die vorgetragenen Eingangskapitel des Romans zeugen von Poesie, wenn sie Wände, Mosquitos, Krähen, gar „die Orthodoxkirche“ sprechen lassen. Auch höchst heitere Partien trägt die Autorin vor – etwa von der Begegnung mit „zwei Nutten“, denen sie von ihrer Arbeit mit den berühmten Regisseuren erzählt – worauf eine von beiden entgegnet: „Aber Kindchen, Du hast da ja irre Männergeschichten laufen“. Der anhaltende Schlussapplaus galt nicht nur dem Inhalt des Romans und Gesprächs, sondern auch dem Durchhaltevermögen der stimmlich lädierten Autorin.

DK


Emine Sevgi Özdamar: Ein von Schatten begrenzter Raum, Suhrkamp Verlag, 764 Seiten, 28 Euro.