Ingolstädter Tanztage
Liebe, Angst und Geborgenheit: Ceren Oran & Moving Borders präsentierten „Stories in Blue“

19.09.2023 | Stand 19.09.2023, 10:02 Uhr |

Die emotionale Landkarte Familie: Szene aus Ceren Orans „Geschichten in Blau. Foto: Luff

Eine der Produktionen, die auf den Ingolstädter Tanztagen zu sehen sind, ist traditionell ein Familienstück. Diesmal bot das Junge Theater in Kooperation mit den Tanztagen Ceren Orans neueste Tanzperformance „Geschichten in Blau“ mit abstraktem Tanz und Live-Musik. Dass dabei die beiden Musiker Benny Omerzell und Milly Groz bewusst in die Handlung des Tanztheaters einbezogen wurden, machte den besonderen Reiz der „Stories in Blue“ aus.

Professionell agierten Roni Sagi und Jovana Zelenovic als Tänzer und setzten die von der Choreografin raffiniert angelegten und dennoch auf Anhieb verständlichen Szenen auf der Bühne des Kulturzentrums neun leidenschaftlich um.

Das Narrativ der getanzten Szenen ist im Kern eine Geschichte des Lebens aus kindlicher Sicht. Von der Zeugung über die Geburt bis zur Kindheit erlebt man diese Geschichte, die sich heute auf der Erde millionenfach wiederholt. Und doch ist die selbstverständlichste und ursprünglichste aller sozialen Beziehungen, die zwischen Eltern und Kind, zugleich auch die komplizierteste. Liebe und Angst, Wut und Geborgenheit, Eifersucht und Mitgefühl: Zwischen diesen oft widersprüchlichen emotionalen Polen muss sich jede Eltern-Kind-Relation täglich beweisen, loten sich die elementaren Gefühle der Beteiligten immer wieder neu aus.

Dass die von Ceren Oran gezeichnete emotionale Landkarte Familie nicht nur Frieden und Harmonie kennt, liegt auf der Hand. Ein Grund für die immer wieder auftretenden Misstöne ist die unglaubliche Nähe der Bezugspersonen Eltern zum Kind. Eltern sind einfach da, man kann sie sich nicht aussuchen und auch kaum austauschen. Sie sind nicht nur die primären Bezugspunkte im Leben eines Kindes, sondern auch dessen Sparringpartner im Ring des Lebens. An ihnen reibt sich der Nachwuchs und muss erst mühsam lernen, was Zusammenleben bedeutet. Und dabei spielt es keine Rolle, ob Vater und Mutter, zwei Mütter oder zwei Väter, ein Elternteil allein oder eine Patchwork-Familie den Ton angeben.

All diese Konstellationen, die heute möglich sind, führen die vier Beteiligten variantenreich vor: als Musiker am Keyboard mit sanften Melodien, die aber auch einmal in Synthesizer-Manier aufbrausen können. Als Schauspieler und Tänzer, die sich in ihrer Liebe und Sorge um das Kind die Seele aus dem Leib tanzen oder es mit Liebe überschütten. In Interaktion zwischen beiden, denn die Grenzen sind fließend. Nur das Kind selbst fehlt. Glaubt man auf den ersten Blick. Dann aber fällt es einem auf, dass sich das Kind, das personell nicht anwesend ist, auf die elementarste und ursprünglichste irdische Form zurückgezogen hat: die Kugel. Zunächst ist es ein Apfel, den sich die Erwachsenen im verwegenen Spiel zuwerfen, ihn immer wieder auffangen und sich gegenseitig abjagen. Dann, nach der Geburt, mutiert es zur Glaskugel, die im Laufe der Geschichte größer wird, die man umhegen und umsorgen, liebkosen oder einfach über den Boden rollen kann.

Es ist eine geniale Idee der Choreografin, die kindliche Perspektive derart zu vergegenwärtigen, ihr Materie zu geben und sie so zum fragilen Spielball der Erwachsenen zu machen. Diese Idee birgt auch Momente der Komik, etwa wenn der überforderte Vater (Roni Sagi) zuerst eine, dann zwei und am Ende sogar vier Kugeln beaufsichtigen muss, die er sachte über den Bühnenboden kullern lässt, stets darauf bedacht, dass sie keinen Schaden nehmen. Immer wieder neu kümmern sich Hände und Füße und oft auch die komplett sichtbaren Eltern um diese kleinen Kugeln. Die mobilen stoffbespannten Wände (Bühnenbild: Sigrid Wurzinger) zeigen nicht alles, verbergen auch einmal die Erwachsenen, die um die Gunst des Nachwuchses konkurrieren. Sie werden ständig hin und hergeschoben, trennen oder schaffen Inseln der Zwei- und Dreisamkeit.
Die Geschichte dieser Kindheit vollzieht sich über weite Strecken in unendlicher Mutterliebe (als Mutter: Jovana Zelenovic), kennt aber auch Phasen der Trennung und neue Konstellationen. Etwa wenn sich gleich vier Erwachsene rührend um das Kind, die große Glaskugel, kümmern und in ihrer Liebe zu Konkurrenten werden. Die Stoffwände können nämlich durchaus für Zoff sorgen, Dynamik und Dramatik erzeugen, wenn sie rasend schnell verschoben oder zum Schutzraum der familiären Keimzelle werden. Die raffinierte Lichtregie und die emotional stimmige, selbst komponierte Musik aus den beiden Keyboards komplettiert die rasch wechselnde Szenerie einer emotionalen Reise aus kindlicher Sicht. Die Choreografin hat sich für dieses Stück mit ihrem Team auf eine Recherchereise in die eigene Kindheit begeben, aber auch die wahren Experten befragt, die Kinder selbst. Während des Produktionsprozesses arbeitete sie mit der Schule am Schererplatz in München-Pasing zusammen. Das Ergebnis besticht durch atemberaubender Ästhetik und emotionale Authentizität. Ceren Oran erzählt hier die Geschichte einer Kindheit, die ebenso packend wie allgemeingültig ist. Selbst die Jüngsten im Publikum konnten sich dieser Performance kaum entziehen.

DK


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