Umjubelte Uraufführung
„Let Them Eat Iphigenie“ in der Werkstattbühne

18.12.2022 | Stand 17.09.2023, 8:07 Uhr |

Entfesselte Energie: Enea Boschen, Steven Cloos (vorne) und Olivia Wendt und Clara Schwinning in der Inszenierung von David Moser in der Werkstattbühne in Ingolstadt. Foto: Klenk

Von Anja Witzke

Ingolstadt – Schon in der Anfangsszene entblättert sich die Komplexität des Stücks. Gerade hat Agamemnon brutal eine Hirschkuh abgeschlachtet, da tritt er schon an die Rampe, um in einem Brief mit schmeichlerischen Worten seine Tochter Iphigenie nach Aulis zu befehligen. Nach Troja wollte er sein Heer führen, doch Windstille lähmt die Segel. Der Aufbruch in den Krieg stockt. Erzürnt über die frevelhafte Jagd – es war die allerallerallerletzte Hirschkuh von Griechenland oder von der Welt, wer weiß das schon –, fordert die Göttin Artemis, dass Agamemnon seine älteste Tochter opfert. So übermittelt es der Seher Kalchas. Macht, Lüge, Betrug, Politik. Unter dem Vorwand, sie mit Achill zu verheiraten, lockt Agamemnon sie nach Aulis. Und Iphigenie muss eine Entscheidung treffen.

Euripides‘ Tragödie „Iphigenie in Aulis“ wurde 405 vor Christus aufgeführt. David Moser und Natalie Baudy haben im Auftrag des Jungen Theaters Ingolstadt diesen antiken Text überschrieben – und dabei den Fokus auf die Titelheldin gelegt. Ihre Geschichte ist eine Geschichte der Selbstermächtigung. Iphigenie will nicht länger Spielball der Mächtigen sein. Sie steht unter großem Erwartungsdruck („du wirst deine Familie nicht los; du wirst die Welt nicht los, die dir alle Regeln vorgibt“), weiß um ihre Verantwortung, doch sie begehrt auf, stellt Fragen, nimmt die anderen in die Pflicht: „Warum eigentlich ich? Was ist denn mit dir? Warum darf ich mir nicht von dir wünschen, dass du wieder alles in Ordnung bringst?“

Moser und Baudy schreiben über existenzielle Probleme der heutigen Generation, die mit den Krisen der Gegenwart überfordert sind, sich aber dazu verhalten müssen. Sie verweben Euripides‘ Sprache mit einer modernen. Auch das holt den Konflikt näher an das junge Publikum – das Stück ist ab 14 Jahren empfohlen – heran. Und: Sie erzählen die Geschichte auf verschiedenen Ebenen weiter. Es geht um Sehnsucht und Pflicht, um Identität und Autonomie, um Haltung und Rebellion.

„Let Them Eat Iphigenie“ haben Moser und Baudy ihr Stück genannt – in Anspielung auf Kate Tempests wildes Sprachkunstwerk „Let Them Eat Chaos“. Und der Schriftzug spiegelt sich wider auf der scharfkantig-zerklüfteten Gebirgslandschaft, die Stella Lennert in der Werkstatt aufgefaltet hat. Aulis zwischen Wetterextremen und Zivilisationsmüll.

Ein kluger Kommentar zur Gegenwart ist Regisseur David Moser mit dieser Uraufführung gelungen. Dabei führt er sein vierköpfiges Ensemble mit leichter Hand, zarter Poesie, aufregendem Spielwitz. Jeder ist hier mal Iphigenie, jeder darf sich fürchten, darf zögern, zagen, mutmaßen, groß denken, widerständig sein. Auf ganz unterschiedliche Art. Aber Enea Boschen, Steven Cloos, Clara Schwinning und Olivia Wendt sind auch Agamemnon, Menelaos, Klytämnestra, Achill, sind Kriegerinnen und Botinnen, Schauspielerinnen und Jugendliche.

Wunderbar ist das, wie sie in immer neue Rollen eintauchen, den hohen Ton mit Umgangssprache brechen, ihre Gefühlswelten so klarsichtig analysieren und kommentieren wie die politische Lage. Verstörend der Chor der Zombiekrieger zu Sebastian Jurchens dräuendem Sound, köstlich das Tête-à-Tête zwischen den vermeintlichen Heiratswilligen. In jeder Szene: entfesselte Energie. Trotz all der Komik, all der Irritationen – was hier verhandelt wird, ist dringlich. Unbedingt anschauen!

DK


ZUR PRODUKTION

Theater:

Junges Theater Ingolstadt

Regie und Text:

David Moser

Ausstattung:

Stella Lennert

Vorstellungen:

30. Dezember,

7. und 28. Januar

Kartentelefon:

(0841) 30547200

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