Katastrophaler Notstand

Zu "Kein Platz für geistig behinderte Menschen" (DK vom 20. September):

22.10.2018 | Stand 02.12.2020, 15:24 Uhr

Zu "Kein Platz für geistig behinderte Menschen" (DK vom 20. September):

Mein Dank geht an Jürgen Holl und Susanne Knopp aus dem Elternbeirat von St. Vinzenz. Sie wünschen sich ein Wohnheim für ihre und viele andere Kinder und kämpfen dafür auf allen Ebenen. Ich möchte zur Unterstützung an dieser Stelle ganz klar sagen: Der katastrophale Notstand auf diesem Gebiet bedarf keines Wunsches, sondern einer Forderung!

Meine geistig behinderte Schwester ist 56 Jahre alt, meine bis vor einem Jahr sie rund um die Uhr pflegende Mutter ist 86 Jahre alt. Sich der eigenen Pflegebedürftigkeit bewusst zu werden oder vielleicht sogar dem persönlichen Ende in einem gewissen Seelenfrieden entgegenzusehen, wird durch die Sorge um die zukünftige Lebenssituation des eigenen Kindes unmöglich gemacht. Die Wartezeit auf einen Wohnheimplatz beträgt inzwischen nicht Jahre, sondern Jahrzehnte. Dem Wortlaut "Armutszeugnis" (aus dem Artikel von Holl und Kopp) für Ingolstadt und die umliegenden Landkreise kann ich nur zustimmen.

Die rühmliche Ausnahme in diesen Tagen ist die Gemeinde Münchsmünster, von deren Projekt jüngst im DK zu lesen war. Wenn ich die Begriffe "Boomtown" sowie "Kongresshotel" oder "ein dringend erforderliches Gründerzentrum" und viele weitere nur höre, verspüre ich ein starkes Gefühl von Übelkeit. Meine Schwester lebt nun seit einem Jahr in einem Wohnheim. Die Mitarbeiter dort leisten Großartiges unter extrem erschwerten Bedingungen. Die Räumlichkeiten hingegen wären einen Besuch aller Bürgermeister von Ingolstadt und Umgebung wert. Einzelzimmer müssen zu Doppelzimmern gemacht werden. So kommt es, dass meine sehr ordnungsliebende Schwester mit einer Frau in einem Raum zusammenlebt, die krankheitsbedingt ein Messieverhalten pflegt. Nur ein bis an die Grenze arbeitendes Pflegepersonal, dem an dieser Stelle meine ganze Hochachtung und mein Dank gelten, macht ein Leben in solchen Räumlichkeiten überhaupt möglich.

Ich hatte mich entschlossen, meine Wählerstimme derjenigen Partei zu geben, die sich in Sachen Pflege hervorhebt. Es war eine äußerst schwierige Entscheidung. Wenn man an die Streichung der Tagespflegeplätze im Hl.-Geist-Spital denkt oder an einen würdigen Wohnraum für psychisch kranke, jedoch eigenverantwortlich lebende Menschen, tut sich weder Ingolstadt, noch andere Gemeinden hervor. Inklusion ist das Schlagwort unserer Zeit, angemessener Wohnraum würde vielen behinderten Menschen schon reichen. Ich wünsche allen Menschen und damit auch allen Stadtoberhäuptern und für das Gemeinwohl verantwortlichen Personen gesunde Kinder, damit niemand in die Lage kommen muss, existenzielle Sorgen wie die Eltern eines behinderten Kindes sie aushalten müssen. Was soll ich einem technik-affinen Oberbürgermeister wie Herrn Lösel wünschen? Vielleicht viel Erfolg für die Weiterentwicklung seiner Flugtaxis? Damit er am Ende seines Lebens nicht auf Wohnraum in einem Pflegeheim angewiesen ist, sondern direkt zu dem für ihn nach seinem Ableben bestimmten Knotenpunkt gebracht werden kann? Nein, das wäre zynisch. Ich wünsche ihm neben lebenslanger Gesundheit mehr von allem, was die Silbe "-sicht" beinhaltet: Einsicht, Rücksicht, Weitsicht - im Zusammenhang mit denjenigen Menschen, die ihre Interessen nicht in Nadelstreifenanzügen und Power-Point-Präsentationen vertreten können.

Im Übrigen kann die Investition in Wohnraum für die schwächsten Mitglieder einer Stadt oder Gemeinde durchaus ein werbetechnisch interessantes Alleinstellungsmerkmal sein. Viele skandinavische Städte zeigen, wie das gelingen kann.

Petra Zettel, Gaimersheim