Glaubwürdiges Christentum leben
Kanzelrede von „FAZ“-Redakteur Reinhold Bingener zum Reformationstag in St. Matthäus Ingolstadt

03.11.2022 | Stand 22.09.2023, 3:49 Uhr

Martin Luther im Mittelpunkt: Beim Gottesdienst am Reformationstag in St. Matthäus Ingolstadt hielt „FAZ“-Redakteur Reinhold Bingener seine Kanzelrede vor vollen Kirchenbänken. Fotos: Schäfer/Fröhlich

Wie kann evangelischer Glaube wahrhaftig und überzeugend gelebt werden im „nachchristlichen Zeitalter“? Was soll die Kirche tun? Der Gottesdienst zum Reformationsfest am Montagabend in der Matthäuskirche lud zum Nachdenken über die Reformation ein, die mit der Veröffentlichung der 95 Thesen Martin Luthers, dem sogenannten Thesenanschlag, am 31. Oktober 1517 begann. Und bis heute wirkt, wie Dekan Thomas Schwarz in seiner Begrüßung sagte und Luthers „Ruf der Reformation“, „Du bist frei!“, zitierte, der „Freiheit des Einzelnen, Freiheit des Gewissens und Verantwortung für das Ich“ bedeute.

Gut gefüllt waren die Kirchenbänke, versprach die Einladung nicht nur die von Dekanin Gabriele Schwarz und Dekan Thomas Schwarz geleitete Liturgie, musikalisch begleitet vom Posaunenchor St. Matthäus-Mennoniten und KMD Oliver Scheffels (Orgel), sondern auch eine Kanzelrede von Reinhard Bingener, Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ („FAZ“). Mit anschließender Begegnung im Martin-Luther-Saal. Was ebenso zahlreich angenommen wurde. Denn Redebedarf war da.

In 15 Jahren Berichterstattung für die „FAZ“ über evangelische Themen lautet die Hauptthese Bingeners, „dass die evangelische Kirche den inneren Zusammenhang von Reformation und Reform aus dem Blick verloren hat“. Bingener, 1979 in Regensburg geboren, stellte seine Bilanz über den Zustand der Kirche angesichts steigender Austrittszahlen und Schwund beim Gottesdienstbesuch in den Zusammenhang der Angebote der Moderne wie etwa Netflix-Serie versus sonntäglicher Kirchgang, moderne Landwirtschaft versus der Bitte um das tägliche Brot. Seit der Reformation und Aufklärung sei aber auch viel Fragwürdiges der Religion wie Aberglaube, soziale Zwänge oder Klerikalismus zurückgedrängt worden. In Fragen der sozialen Absicherung und der weitgehenden Ächtung von Gewalt und Willkür sei in der Gesellschaft heute christliche Ethik verwirklicht, sodass vielfach nicht mehr deutlich sei, wofür die Kirche nun stehe.

Mangelhafte Kommunikation der Kirche

Bingener geißelte deshalb die mangelhafte Kommunikation der Kirche. Denn in der Pandemie, als die Frage nach den Kirchen wieder gestellt wurde, habe es vielerorts Angebote gegeben wie Online-Gottesdienste oder Gemeindebriefe. Die Leistung der Kirche sei aber nicht ausreichend kommuniziert worden. Schuld daran seien die kirchlichen Strukturen, der Föderalismus der evangelischen Landeskirchen, was teilweise Doppelbesetzungen von Gremien und Verwaltung nach sich ziehe. Pfarrerinnen und Pfarrer hätten weniger Zeit für die Begegnung mit den Gemeindegliedern und die Seelsorge. Die oft schlechte Erreichbarkeit der kirchlichen Stellen bei Taufen, Beerdigungen oder Trauungen sah Bingener als Zeichen der strukturellen Trägheit der Organisation Kirche. Junge Menschen, die zu Beginn ihrer Berufstätigkeit umziehen, machten häufig die Erfahrung, dass die neue Kirchengemeinde sich weder melde noch Angebote habe.

Dazu komme der Hang zur Selbstsäkularisierung: Die wünschenswerte Offenheit der Kirchen für Nichtmitglieder, Interessierte und Distanzierte bedeute oft aber, dass der religiöse Bezug aus freien Stücken aufgegeben werde. Bingener erzählte am Beispiel des Kindergartens seiner Tochter, dass das Martinsfest ohne Not in Lichterfest umbenannt wurde, während die staatliche Grundschule einen Martin auf dem Pferd reiten ließ. Dass Nichtmitglieder wie Wirtschaftsminister Lindner und seine Partnerin einfach so in einer evangelischen Kirche getraut werden, lasse Zweifel aufkommen bei Kirchenmitgliedern, die brav Kirchensteuern zahlten. Mit der Forderung, das Evangelium unverfälscht und klar zu predigen ohne zu politisieren, schloss der Journalist und studierte Volltheologe seine Kritik.

„Das Christentum umfasst heutige Themen“

Er betonte, dass jeder Mensch christliche Ethik lebendig und sichtbar machen könne; mit der eigenen Frömmigkeit und Lebensführung. Das Christentum sei eine konkrete Religion, die heutige Themen umfasse wie die Suche nach Sinn, Stille, Gemeinschaft und die Frage der Vergebung. Jeder könne zu einem glaubwürdigen Christentum beitragen.

Mit dem Lied „Ein feste Burg“, das Martin Luther wohl um 1529 schrieb und das als das Lied des Protestantismus gilt, schloss der Gottesdienst.

DK