Mit lautem Rums poltert Lena ins Metaverse und testet erst mal ihr digitales Ich, morpht in die Bewegungen, versucht sich an Sätzen: „Ich bin ein Automat.“ Hier hat ihr Vater die Hochzeit geplant. Mit Leonce. Aus dem anderen Königreich. Aber Lena hat darauf keine Lust. Keine Lust auf Fremdbestimmung. Auf Abhängigkeit. Auf Funktionieren-Müssen. Leonce will auch nicht heiraten. Aus anderen Gründen. Es geht ihm nicht gut. Schlaflosigkeit, Übelkeit. So ein Sirren im Kopf. Unruhe. Angst. Vor der Bedeutungslosigkeit. Depression. Diese ganzen Katastrophen globalen Ausmaßes. Er kann nicht mehr. Deshalb sind beide sofort dabei, als Valerio vorschlägt zu fliehen. Nach Italien. Das sich im Metaverse leicht finden lässt.
Mit „Leonce und Lena“ schrieb Georg Büchner 1836 ein royales Lustspiel voller Doppeldeutigkeiten und mit abgründigen Figuren. Es geht nicht nur um den Widerstand der Jugend gegen eine erstarrte, sinnentleerte Welt oder um den Taumel zwischen Weltschmerz, Liebe und Langeweile. Es geht um die großen Fragen der Menschheit. Wer bin ich? Wer will ich sein? Und reicht der Mut dafür aus? David Moser und Natalie Baudy haben Büchners Stück überschrieben und erzählen es für Publikum ab 15 Jahren neu – in moderner Sprache, mit scharfsinnigem Witz und unerwarteter Dringlichkeit. Die Premiere von „L3ONCE und L3N4 – esc esc esc!“ am Samstagabend in der Werkstatt des Jungen Theaters wurde begeistert gefeiert.
Ja. Es ist immer noch Büchner, auch wenn schon die Schreibweise des Titels sonderbar anmutet und Moser und Baudy Text und Figuren radikal gestrichen oder neu zusammengefügt haben. Sogar die Automaten-Hochzeit („in effigie“) kommt noch vor – wenn auch komplett anders. Vor allem haben die Autoren die emotionale Essenz herausgefiltert und eine Sprache gefunden, die geschmeidig den originalen Sound des Vormärz und die Lebenswirklichkeit des 21. Jahrhunderts amalgamiert und den Schauspielern leicht über die Lippen geht.
Überhaupt: Ein grandioses Quartett steht David Moser für seine Inszenierung zur Verfügung: Enea Boschen als Lena, Steven Cloos als Leonce und Tim-Fabian Hoffmann als Valerio agieren als gebeutelte jugendliche Verweigerer, Aussteiger, Träumer. Olivia Wendt repräsentiert als „Herr Königin“ die Erwachsenen-Position herrlich durchgeknallt und bisweilen mit einer Stimme, die wie ein Echo aus Mordor dröhnt. Alle vier vermögen auf unterschiedliche Weise zu berühren, verführen, entzücken. Nuanciert und präzise präsentieren sie ihrer Figuren, mit Wucht und Wut, voller Zartheit und Weh. Rasant. Komisch. Poetisch.
„Esc“ steht auf der Computertastatur links oben für die Escape-Taste. Mit der Escape-Taste wird ein Vorgang abgebrochen. Das englische Wort bedeutet „fliehen, entkommen, aussteigen“. Im Titel des Theaterstücks steht es für die Flucht der drei Figuren Leonce, Lena und Valerio.
In der digitalen Welt, die Ausstatterin Stella Lennert mit dynamischen Lichteffekten und Musiker Lukas Schwermann mit einem bitzelnden System-Klang-Sound präpariert haben, finden sie aber nicht nur einen Flucht- und Rückzugsort, sondern auch einen alternativen Ideenraum für die analoge Realität. Am Ende schöpfen sie darin so viel Kreativität und Kraft, dass sie sich gemeinsam zurück ins echte Leben stürzen. Langer Applaus!
DK
ZUR PRODUKTION
Theater:
Junges Theater Ingolstadt
Regie: David Moser
Bühne und Kostüme:
Stella Lennert
Vorstellungen:
30. Dezember, 18. Januar
Kartentelefon:
(08 41) 30 54 72 00
Artikel kommentieren