Die hohe Zahl an Kopfverletzungen im Eishockey und deren gravierende Folgen stellen ein ernstes Problem dar. Die Diagnostik ist schwierig, die Ausfallzeit mitunter lang. ERC-Stürmer Enrico Henriquez erlitt mit gerade einmal 22 Jahren die vierte Gehirnerschütterung in seiner Karriere – und kämpfte mehr als sechs Monate um sein Comeback.
Ein wenig ungewohnt war es schon für Enrico Henriquez, nach so langer Zeit wieder auf dem Eis zu stehen. Er habe ein paar Minuten gebraucht, um sich sicher auf den Kufen zu fühlen, erzählt der Stürmer des ERC Ingolstadt. „Aber es war ein schönes Gefühl“, meint Henriquez und sagt dann nachdenklich: „Es war doch eine lange Zeit.“
Studien zufolge sind 85 Prozent aller Eishockeyspieler nach einer Gehirnerschütterung innerhalb von sieben Tagen wieder fit. Enrico Henriquez braucht mehr als sechs Monate. Am 26. Dezember rauscht der damals 22-Jährige im Auswärtsspiel bei den Nürnberg Ice Tigers mit zwei Spielern zusammen. Die beiden jagen auf dem Weg zum Tor dem Puck hinterher, Henriquez kommt gerade vom Wechsel. „Man kann keinem die Schuld geben, wir sind einfach ineinander gelaufen. Das passiert“, sagt Henriquez. „Es sah auch nicht so schlimm aus, wenn man es auf dem Video anschaut.“
Der Beginn einer langen Leidensgeschichte
Henriquez spielt die Partie sogar zu Ende, setzt dann eine gute Woche aus und steht am 5.Januar im Derby gegen die Augsburger Panther schon wieder bereit. Doch da wird schnell klar, dass es nicht geht. Es ist das letzte Mal, dass der Stürmer auf dem Eis steht – und der Beginn einer langen Leidensgeschichte.
Im Eishockey zählen Gehirnerschütterungen von Natur aus zu den größten Risiken, wenn ein Check des Gegenspielers vom Helm nicht mehr abgefedert werden kann, wenn Spieler mit 35 km/h zusammenrauschen, wenn sie mit dem Kopf voran in die Bande krachen. „Das ist, wie wenn man mit dem Auto mit 40, 50 km/h in die Wand fährt. Einfach direkt auf Null“, sagte der ehemalige Schweizer Eishockeyspieler Eric Blum, der seine Karriere nach einer schweren Gehirnerschütterung beenden musste, in einer Doku der „Neuen Zürcher Zeitung“.
Hohe Zahl an Kopfverletzungen im Eishockey
Laut jüngstem Sportreport der Berufsgenossenschaft gab es in der Saison 2021 der Deutschen Eishockey-Liga (DEL) insgesamt 1163 gemeldete Verletzungen. 18 Prozent davon betrafen den Kopf, damit stehen Kopfverletzungen im Eishockey an erster Stelle. Im Handball und Basketball sind es „nur“ acht Prozent. Etwa jede 30. Verletzung im Eishockey ist eine Gehirnerschütterung. „Beim ERC haben wir eine bis zwei pro Saison“, sagt Mannschaftsarzt Stephan Ehler.
Das größte Problem bei Gehirnerschütterungen ist, dass man sie nicht sieht. Klassische Scan-Verfahren zeigen diese Störungen nicht. „Das ist das Fiese. Du siehst in CT oder MRT dann etwas, wenn ein Hirn verletzt ist und blutet, aber das ist bei Gehirnerschütterungen nahezu nie der Fall“, erklärt Ehler.
Mit einer App zur richtigen Diagnose
Und eine Verletzung, die man nicht sieht, wird leicht unterschätzt. Die wenigsten Spieler sind gleich bewusstlos, auch Benommenheit, Verwirrtheit, Gleichgewichtsstörungen, Sprachstörungen oder Erinnerungslücken sind nicht immer vorhanden. Für die richtige und möglichst schnelle Diagnostik kommt es deshalb vor allem auf die Erfahrung, Kenntnis und Vorbereitung der Physiotherapeuten und Mannschaftsärzte an. Im deutschen Profisport gibt es eine Taschenkarte oder App, die die Betreuer stets bei sich haben sollen, um bei entsprechenden Hinweisen und Symptomen richtig zu handeln. Bei einem Verdacht müssen die Profis noch am Spielfeldrand einen Schnelltest zur Gedächtnisfunktion bestehen: Welcher Tag ist heute? In welchem Drittel sind wir? Wer war der letzte Gegner? Wie ist der Spielstand?
Wird ein Spieler wegen Anzeichen einer Gehirnerschütterung aus dem Training genommen, muss er mindestens sechs Tage aussetzen, das legt das sogenannte „Return-to-play“-Protokoll fest. Die Spieler müssen sechs Stufen durchlaufen – von der absoluten Ruhe über leichte und kurze aerobe Übungen bei niedrigem Puls bis zum Wiedereinstieg ins Mannschaftstraining. „Solltest du aber schon bei Stufe vier merken, dass es zu viel war, geht es wieder auf Stufe drei“, erklärt Ehler. „Wenn du es schnell durchläufst, bist du ungefähr bei sieben Tagen. Das passt im Eishockey ganz gut, bis zum nächsten Spiel sind sie meistens wieder fit.“
Geistige Schonung für Henriquez
Bei Henriquez dauert alleine Stufe eins mehrere Monate. Am Anfang schläft der 23-Jährige die meiste Zeit, befolgt Ehlers Gebot der „geistigen Schonung“: kein Handy, keine Playstation, kein Buch, kein TV. Alles vermeiden, was anstrengend für die Augen ist. An Sport ist nicht zu denken, selbst Spazierengehen strengt den Stürmer anfangs an. „Man muss immer aufpassen, dass du den Puls nicht zu hoch kriegst“, sagt Henriquez. „Du kannst nicht viel machen. Auf die lange Zeit war das schon sehr anstrengend, daheim rumzusitzen.“
Mit gerade einmal 22 Jahren ist es bereits die vierte Gehirnerschütterung in der Eishockey-Karriere des Stürmers. Die erste zieht er sich als 17-Jähriger bei den Starbulls Rosenheim zu, einmal hat er nach einem Bandeneinschlag eine Erinnerungslücke von einer Dreiviertelstunde. „Da weiß ich bis heute nicht, was passiert ist, das war vom Hergang die schlimmste. Aber von der Zeit, von der Dauer, war es jetzt das Anstrengendste“, sagt Henriquez. Über Monate leidet er täglich unter starken Kopfschmerzen. „Es ging jeden Tag nach dem Aufstehen los – manchmal mehr, manchmal weniger, aber es war immer da“, erzählt Henriquez. „Natürlich haben wir alles abgecheckt, auch beim Neurologen. Da war alles gut. Es hat einfach Zeit gebraucht.“
Große Gefahr von Langzeitschäden
Es gibt zahlreiche Eishockeyspieler, bei denen selbst die Zeit nicht alle Wunden heilte. Ein bekanntes Beispiel in der Region ist der ehemalige Panther Chris Heid, der seine Laufbahn wegen Gehirnerschütterungen beenden musste. Auch der ehemalige Nationalspieler Stefan Ustorf kämpfte nach sieben Gehirnerschütterungen zwei Jahre lang vergeblich um sein Comeback. In der vergangenen DEL-Saison sorgte der Fall David Warsofsky für Aufstehen, der nach einem üblen Check des Ingolstädters Travis St. Denis im Panther-Derby für die restliche Saison ausfiel.
Neben der schwierigen Diagnostik sind Langzeitschäden das zweite Übel von Gehirnerschütterungen. Ehler zählt die Palette eklatanter Symptome auf: Stimmungsschwankungen, Reizbarkeit, depressive Verstimmungen, Erschöpfungszustände, Angstzustände, Schlafstörungen, Konzentrationsschwächen, Gedächtnisstörungen. Auch eine Erkrankung an chronisch traumatischer Enzephalopathie, kurz CTE, kann durch Gehirnerschütterungen hervorgerufen werden. „Da wird es dann richtig krass. Das ist eine schwerwiegende Erkrankung des Gehirns – Wesensveränderungen können auftreten, Verluste der Impulskontrolle, Aggressivität“, erklärt Ehler. „Meistens sind es viele Traumata sein, die dazu führen. Es können aber genauso nur zwei, drei kurze sein, die das CTE auslösen.“
Henriquez zitterte um seine Karriere
Auch Henriquez hatte während seiner langen Genesungsphase ab und zu Angst, dass er seine Eishockey-Karriere nicht fortsetzen kann. Die meiste Zeit aber war er guter Dinge und kämpfte sich – begleitet von Mannschaftsarzt Ehler und dem ERC-Team – Stück für Stück ins Alltagsleben zurück: Er traf seine Mannschaftskollegen zum Mittagessen, drückte während der Spiele auf der Tribüne die Daumen, fing vor gut zwei Monaten wieder mit dem Krafttraining an, nachdem seine Muskeln komplett abgebaut waren.
Der größte Schritt aber war der zurück aufs Eis. Anfang Juli trainierte Henriquez erstmals mit einigen Teamkollegen und Trainer Artur Grass in der Straubinger Halle. Der Kopf bestand den Test, die Muskeln sind fast wieder auf dem alten Stand, die Symptome verschwunden. Dem „schönen Seuchenjahr“, das im vergangenen Sommer mit einer Bein-OP begonnen hatte, soll nun eine erfolgreiche Saison folgen. Vor allem aber eine verletzungsfreie.
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