Die Theatermaschine schnurrt

Umjubelte Premiere: Philipp Moschitz lässt Georges Feydeaus „Floh im Ohr“ zwischen Himmel und Hölle spielen

29.01.2023 | Stand 17.09.2023, 4:23 Uhr

Ankunft in der Hölle: Teufelin Ferraillon und ihre Servicekräfte (Judith Toth, Teresa Trauth und Leopold Lachnit, rechts) begrüßen den Abgesandten des Himmels, Romain Tournel (Richard Putzinger, Mitte). Matthias Zajgier (links) glänzt in einer Doppelrolle. Foto: Ludwig Olah

Von Anja Witzke

Ingolstadt – Könnte eigentlich alles ganz schön sein, hier auf Wolke 7. Lichtes Design, herrliche Aussicht. Hätte Madame Chandebise da nicht einen Verdacht! Weil im Bett nichts mehr läuft, glaubt sie, dass ihr Ehemann sich anderweitig vergnügt. Als dann auch noch seine Hosenträger per Post zu Hause abgeliefert werden und den Absender eines einschlägigen Etablissements tragen, ist das für sie Beweis genug. Gemeinsam mit ihrer Freundin Lucienne heckt sie einen Plan aus, Victor-Emmanuel inflagranti zu ertappen. Mit einem fingierten Liebesbrief bitten sie ihn zum Rendezvous in das bewusste Hotel. Dort soll er enttarnt werden. Der Ehemann indes glaubt an eine Verwechslung und schickt stattdessen seinen Freund Tournel. Damit beginnt eine folgenreiche Verwechslungskomödie, die noch dadurch gesteigert wird, dass Bordellknecht Poche dem Biederbürger Chandebise spektakulär ähnelt. Und weil irgendwann alle – mehr oder weniger inkognito – und mit den unterschiedlichsten Absichten in dem zwielichtigen Stundenhotel aufkreuzen, rotiert das Komödienkarussell auf Hochtouren.

Georges Feydeaus temporeiches Stück „Floh im Ohr“ von 1907, mit dem er die Doppelmoral seiner bürgerlichen Zeitgenossen anprangerte, sprüht nur so vor überraschenden Wendungen, Missverständnissen, Notlügen und Trugschlüssen und ist in seiner präzisen Mechanik eine seiner ausgetüfteltsten Arbeiten. Die bescherten ihm bereits zu Lebzeiten wahre Triumphstürme.

Wie kann das aber mehr als 100 Jahre später mit veränderten Moralvorstellungen und nach einer intensiven Genderdebatte noch erzählt werden? Für das Stadttheater Ingolstadt hat sich Regisseur Philipp Moschitz eine originelle Setzung ausgedacht. Er wählt als kontrastierende Spielorte Himmel und Hölle, jongliert mit den entsprechenden Klischees und reichert Feydeaus Komödienwahnsinn zusätzlich mit all den aberwitzigen Zutaten an, die sich daraus ergeben – von lichtdurchwirkten Kostümen samt Strahlenkränzen für die Madonnen bis zur „Fegefeuer in Ingolstadt“-Semantik. Im Haus Chandebise wohnen demzufolge der HERR, „Marie“-Raymonde und „Jesu“-Camille samt himmlischer Glaubens- und Verwaltungsgefolgschaft, während am Ort der Verdammnis alles, was sowieso hierhergehört oder keine Berührungsängste hat, sich dem Kommando von Höllenchefin Ferraillon unterordnet. Von oben nach unten, vom heteronormativen Himmel in die genderfluid entkrampfte Hölle, führt ein Aufzug, den Bühnenbildner Thomas Flach ins Zentrum des Großen Hauses gesetzt hat, auf dass er im Minutentakt mit viel Bling-Bling und Getöse der Geschichte immer neue Komplikationen hinzufüge.

Dass das mit dem Humor so eine Sache ist und nicht jeder über das Gleiche lachen kann, wird beim Schlussapplaus der Premiere am Samstagabend deutlich. Während vorn die ersten nach gut zwei pausenlosen Stunden aufstehen, um frenetisch zu klatschen, hört man hinten vereinzelte Buhs.

Dabei gibt es an der handwerklichen Qualität der Produktion nichts zu rütteln. Regisseur Philipp Moschitz hat das durchgeknallte Stück in der Übersetzung Elfriede Jelineks mit überbordender Fantasie auf die Bühne gebracht. Mit Thomas Flach und Cornelia Petz hat er ein Ausstattungsteam verpflichtet, das dem Himmel-Hölle-Konzept einen grandiosen Rahmen gibt. Vom transluziden Mobiliar bis zum anarchistischen Séparée. Von der Ikonographie religiöser Bildwerke bis zur flitterfedrigen Rotlichtmilieu-Maskerade. Philipp Moschitz hat sich für Feydeaus libidinöse Klipp-Klapp-Komödie mangels Türen andere Verrücktheiten ausgedacht, um die Theatermaschinerie in Schwung zu halten. Denn weil alle Auf- und Abtritte, alle eindeutigen Doppeldeutigkeiten, jeder verbale Schlagabtausch exakt durchkonstruiert sind, muss das Räderwerk präzise funktionieren. Wahnwitz verlangt hohes Tempo und perfektes Timing. Und genau das liefert der Regisseur mit seinem exzellenten Ensemble in dieser wilden Show. Spielfreudig zeigen sich die insgesamt 14 Schauspielerinnen und Schauspieler allesamt – und höchst erfrischend in ihren Figurenerfindungen. Den meisten Applaus sahnt naturgemäß Matthias Zajgier ab, der in seiner kräftezehrenden Doppelrolle als Gott und bajwarisch-tumber Bordellknecht zu glänzen vermag. Extra-Applaus verdient sich auch Luca Skupin als unterschätzter Camille mit entzückendem Spiel und virtuoser Sprachfehler-Darbietung. Es macht Spaß, Sarah Horak als Marie-Raymonde und Luiza Monteiro als Lucienne beim Intrigen-Spinnen zuzusehen, ihren Comic-Sprechblasen zu lauschen. Judith Toth gibt eine veritable Teufelin – und Teresa Trauth, Leopold Lachnit, Renate Knollmann und Olaf Danner eine diabolisch-frivole, singfreudige Mannschaft. Und Manuela Brugger, Ulrich Kielhorn, Richard Putzinger, Jan Gebauer und Ivan Markovic jagen zwischen Dauer-Wolken-Nebel in unbeschwerter Rasanz von einem amourösen Abenteuer zum nächsten, drehen skurrile Klimbim-Pirouetten in fideler Leichtigkeit. Liebe und Lust, sexuelle Orientierung und tradierte Moralvorstellungen, Lüge und Wahrheit, Schein und Sein: Mit hohem Tempo und einer gehörigen Portion Frechheit rückt Philipp Moschitz diesem Feydeau zu Leibe. Nicht jeder wird das gleich lustig finden – aber zu lachen gibt es garantiert jede Menge.

DK




ZUR PRODUKTION

Theater:

Großes Haus,

Stadttheater Ingolstadt

Regie:
Philipp Moschitz
Bühnenbild:
Thomas Flach
Kostümbild:
Cornelia Petz

Dauer:

2 Stunden ohne Pause

Nächste Vorstellungen:

11., 12., 18. Februar

Kartentelefon:

(0841) 30547200