Von Christian Silvester
Ingolstadt – Es bedurfte nur eines geöffneten Fensters, um den fetten Sound der Weltgeschichte direkt vor dem Mischpult zu haben. Am 10. November 1989 nahm die Band Karussell aus Leipzig, eine der beliebtesten Gruppen der DDR, in den West-Berliner Hansa-Studios Songs auf; die Musiker waren für ein deutsch-deutsches Pop-Joint-Venture eingereist. In der Nacht zuvor mussten wegen des Ansturms der Ost-Berliner in der geteilten Stadt die Grenzübergänge geöffnet werden. Als Karussell-Mitbegründer Wolf-Rüdiger Raschke an jenem historischen Morgen danach in dem Kreuzberger Studio ein Fenster aufriss, hörte er aus der Ferne Metall auf Beton hämmern, zigtausendfach. „Die Leute pickten die Mauer herunter“, erzählt er am Sonntag beim Festakt der Stadt Ingolstadt zur Deutschen Einheit – immer noch tief bewegt.
Die Wiedervereinigung hat auch in der Geschichte von Karussell große Spuren hinterlassen. 1990 schrieben die Musiker ihren Hit „Marie die Mauer fällt“. 1991 trennten sie sich, weil sich keiner mehr für Rock aus der DDR interessierte, wie Raschke vergangene Woche in einem DK-Interview berichtet hat. 2007 schritten die nun älteren Herren auf Drängen von Raschkes Sohn Joe zur Wiedervereinigung. Der Erfolg hält an.
„Rede zur Deutschen Einheit“heuer „in mutiger Form“
Bevor die Band – Joe Raschke gehört natürlich auch dazu – in der Halle 9 die Bühne betritt, unterhält sich sein Vater mit Achim Bogdhan, Moderator beim Bayerischen Rundfunk, über die alten Zeiten nach dem Zusammenbruch der DDR, die ganz alten Zeiten, als die Songs von Karussell in ihrer Heimat das Lebensgefühl der 70er beseelten, und die Gegenwart. Eine große Fan-Schar aus Sachsen begleitet die Musiker, unter ihnen der 20-jährige, virtuose Lead-Gitarrist Moritz Pachale; als er zur Welt kam, beging die Stadt Ingolstadt den Tag der Deutschen Einheit bereits seit fünf Jahren mit einem Festakt.
Heuer erstmals ohne Vortrag eines Politikers oder einer Politikerin. Sondern mit einer Pop-Band. „Eine mutige Form“, sagt Bürgermeisterin Petra Kleine in ihrer Begrüßung. Aber eine, die sichtlich gut ankommt. Raschke und Bogdhan, die sich hier in Ingolstadt kennenlernen, gehen gleich zum Du über und unterhalten sich angeregt wie gute alte Kumpels.
Wie kamen sie damals auf Marie? „Der Name stand groß auf der Mauer“, erzählt Raschke. Jemand hatte ihn aufgesprüht. Mit einem Datum. Es sei ihm klar gewesen: Darüber mussten sie ein Lied schreiben! Er habe den Texter Michael Sellin „mit Rotwein im Arbeitszimmer eingesperrt“, aber der Wortmeister schwieg. Bis zum dritten Tag, mit mehr Rotwein. „Und dann schreibt der diesen sensationellen Text!“ „Marie die Mauer fällt / Wir kommen uns näher und näher / Die mit den Träumen / Und die mit dem Geld / Die finden sich früher oder später.“ Kurz darauf debütierten Karussell mit „Marie“ in der ZDF-„Hitparade“ – „der erste Nummer-eins-Hit aus dem Osten“.
Fritz Pleitgen brachteMikros aus dem Westen
Wie schwer ist es, diesen Osten heute Jugendlichen zu erklären, will Bogdhan wissen. „Schließlich gab es in der DDR so viel Absurdes.“ „Vor allem hatten wir damals als Musiker 1000 Probleme am Hals“, antwortet Raschke. „Es fehlte an Equipment, wir mussten alles irgendwie zusammenkratzen.“ Ende der 70er brachte ihnen der ARD-Korrespondent in Ost-Berlin, Fritz Pleitgen (am 18. September gestorben), Mikros aus dem Westen mit. „Eine große Journalistenpersönlichkeit!“ Wenn ihn die Enkel bitten: „Erklär’ mir die DDR!“, sei das „ein ganz weites Feld – aber das Gespräch darüber wird nie aufhören. Wir versuchen, rein emotional, weiterzugeben, wie es war“. So sei der starke Zusammenhalt der Leute in der DDR „eine große Errungenschaft gewesen“. Oder: „Wir haben eine gute Ausbildung bekommen und alle Musik studiert, da konnten wir uns international sehen lassen. Aber es gab auch vieles, vieles, das man heute nicht mehr haben will.“
Allem voran die Spitzel der Stasi überall oder Parteigenossen, die auf Konzerten die Texte auf ihre Treue zum Sozialismus hin überprüften. Schwieriges Thema. Bogdhan spart es nicht aus, erinnert an die systemkritische Klaus Renft Combo, die vom Regime drangsaliert wurde; die Band löste sich unter dem Druck auf. „Wir haben die Themen angefasst, die im Raum standen“, so Raschke. „Da haben wir einen schmalen Grat begangen“. „Wo habt Ihr einen Nerv getroffen?“, fragt Bogdhan. Vor allem mit dem Song „Autostop“, antwortet sein Gesprächspartner. „Darin geht es um die Obrigkeit der DDR, die an ihrer Jugend vorbeifährt. Die einen ganz oben, die anderen ganz unten.“
Nach dem überaus lebendigen Gespräch greifen die sechs Herren zu den Instrumenten. Alle sind hervorragende Musiker, wie vom ersten Song an zu erleben ist. Sonorer Retro-Pop perlt durch die Halle 9, mitsamt sattem Orgelsound aus dem Roland-Keyboard, wie man ihn heute nicht mehr oft hört. Eine Gala der Nostalgie. Das Publikum (anfangs auffällig rar, aber dann rücken doch noch viele nach) geht sofort gut mit. Zwei Ehrengäste flüchten bald aus der ersten Reihe – aber nur wegen der Lautstärke – und hören hinten bei der Bar weiter zu.
Die Ingolstädterinnen und Ingolstädter erleben eine zweifellos höchst unkonventionelle „Rede zur Deutschen Einheit“. Falls sich dieses Format durchsetzt, ist es eine spannende Frage, welche Band die Stadt im nächsten Jahr aufbietet.
DK
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