Ingolstadt
Deutsche Geschichte vor der Haustür

Jugendliche auf den Spuren von Nazi-Opfern, die einst das Humanistische Gymnasium Ingolstadt besuchten

25.05.2022 | Stand 22.09.2023, 22:55 Uhr

Mit dem iPad auf Geschichtstour: Schülerinnen und Schüler von Apian-, Katharinen- und Reuchlin-Gymnasium unterwegs mit Gisela Heck und Markus Schirmer, hier in der Milchstraße. Lauren auf dem Berge und Lina Ndah (v.r.) erläuterten kurz jede Station. Foto: Silvester

Von Christian Silvester

Ingolstadt – Ingolstadt war eine kleine Welt in den 1930er Jahren. Man kannte sich. Man half sich. Oder man hasste sich.

Im Humanistischen Gymnasium (dem heutigen Reuchlin) drangsalierten Schüler ihren Klassenkameraden Ernst Holzer, geboren 1920, fürchterlich. Es war so gemein, dass ein Lehrer die Anfeindungen dezent in der Schülerakte vermerkte. Der Bub war ein gläubiger Katholik, galt nach den „Rassegesetzen“ der Nazis aber als „Halbjude“; deshalb wurde er tyrannisiert. Seine Eltern führten den Textilladen „Holzer & Neumeier“ an der Milchstraße 1/3. 1936 ließ Ernst die Lehranstalt mit dem giftig-faschistischen Klima hinter sich und ging ans Benediktiner-Gymnasium Ettal.

Ein Klassenkamerad stand Ernst im Ingolstädter Gymnasium immer schützend zur Seite: Heribert Winter. Er war der Onkel von Gisela Heck, die bis 2020 am Reuchlin unterrichtet hat. Sie hatte die Idee, bei einer Tour durch die Stadt die Häuser aufzusuchen, in denen die ehemaligen Reuchlin-Schüler gelebt haben, die von den Nazis diskriminiert und verfolgt wurden. Ihr Kollege Markus Schirmer, ein Geschichtslehrer, der sich seit Jahren mit Schülerinnen und Schülern sehr engagiert für die Erinnerung an Nazi-Opfer einsetzt, entwickelte gemeinsam mit einer neunten Klasse eine geschichtliche Tour durch die Altstadt. Gäste vom Apian- und dem Katharinen-Gymnasium schlossen sich an. Nun haben sie zusammen ein schreckliches Kapitel der deutschen Geschichte erkundet. Direkt vor der Haustür.

Sie starteten im Reuchlin, wo seit vergangenem Jahr eine Gedenktafel mit biografischen Informationen an elf ehemalige jüdische Schüler des Gymnasiums erinnert. Zehn flüchteten rechtzeitig aus dem Reich der Nazis. Ein Klassenkamerad, Josef Gunzenhäuser, wurde 1942 im Ghetto Theresienstadt ermordet. Ihm ist das „Erinnerungszeichen“ am Eingang des Reuchlins gewidmet, das 2020 feierlich angebrachte wurde.

Die Neuntklässlerinnen und Neuntklässler gingen mit Markus Schirmer und Gisela Heck auch in die Milchstraße, wo das Geschäft der Holzers war, bis Ernst Holzers Vater, David Holzer, ein Jude, untertauchen musste; er überlebte den Holocaust. Wenige Häuser weiter, in der Milchstraße 9, lebten die jüdischen Familien von Kurt Brasch (der vor den Nazi-Mördern nach England floh; 2001 starb er in London) und Bernhard Weinmann; er überstand das NS-Reich in Argentinien; 1978 starb er in Buenos Aires.

An der Ludwigstraße 14 lebte Fritz Schweizer mit seiner Familie, die nebenan ihr Geschäft hatte. 1934 floh der 23-Jährige nach Frankreich. Als Hitlers Armee auch dieses Land besiegte, flüchtete er weiter nach Argentinien, wo er 1956 starb.

Alle Tourteilnehmer waren mit iPads unterwegs, auf denen sie die von Schülern erarbeitete detaillierte Dokumentation zu den Biografien der verfolgten Ehemaligen nachlesen konnten. Die Reuchlin-Schülerinnen Lina Ndah und Lauren auf dem Berge referierten kurz vor jedem Haus. „Wir wollen der Familien gedenken und allen Ermordeten ein Gesicht geben, damit sie nicht auf ihre Opferrolle reduziert werden“, sagte Lina Ndah zu Beginn der Tour. Ihre Mitschülerin Lauren auf dem Berge ergänzte: Diskriminierung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung „sind keine abstrakten Ereignisse, sondern haben unmittelbar in dieser Gegend stattgefunden“.

Die Gunzenhäusers wohnten in der Theresienstraße 23. Ebenso die Familie von Ludwig Leopold; er starb 1995 in New York City. Adolf Gunzenhäuser hatte im Ersten Weltkrieg gekämpft und 1919 mit dem Freikorps Epp die Münchner Räterepublik niedergeschlagen. Er floh 1933 via Italien in die USA. 2019 waren zwei seiner amerikanischen Nachfahren zu Gast im Reuchlin: Rachel Eichhorn und Bruce Werner. Eine fröhliche Begegnung. Die Geschichte, sie geht immer weiter.

DK