Voriges Jahr sind Sie in die ukrainische Hauptstadt gereist, um den Menschen dort mit einem Konzert Trost und Zuversicht zu spenden. Was bedeutet es den Ukrainern, dass Künstler aus dem Ausland bei ihnen auftreten?
Raphaela Gromes: Die Geste, dass Musiker aus dem Ausland zu ihnen kommen, um für sie zu spielen, bedeutet den Ukrainern unglaublich viel. Weil es so wenige gibt, die das gerade tun. Ich habe dort viel Dankbarkeit gespürt. Nach dem Konzert hat mir eine Frau ihre Handschuhe geschenkt und ein Soldat sein Abzeichen.
Haben Sie sich im Vorfeld genau überlegt, welche Musik die Menschen dort gern hören würden?
Gromes: Ich habe darüber mit dem Chefdirigenten und dem Orchesterintendanten gesprochen. Die sind gleich auf Dvořáks Cellokonzert gekommen. Weil es ein so berühmtes und gewichtiges Werk ist, das sowohl für das Cello als auch für das Orchester sehr anspruchsvoll ist. Darin ist die gesamte Bandbreite der Emotionen vertreten von jugendlichem Überschwang und kämpferischem Elan bis hin zu Liebesschmerz, Verlust und Sehnsucht nach der Heimat. Bei dieser Musik fühlen sich die Menschen in der Ukraine in ihren eigenen Emotionen verstanden und bekommen Hoffnung und Trost. Auf dem Album sind neben dem Cellokonzert auch ukrainische Werke enthalten.
Von Yuri Shevchenko interpretieren Sie „We are!“ neu, eine Paraphrase der Nationalhymne. Der Komponist ist kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges gestorben. Hat diese Hymne dadurch eine ganz neue Bedeutung bekommen?
Gromes: Natürlich. Yuri Shevchenko hat die Nationalhymne 2014 bei der „Revolution der Würde“ auf dem Maidan gesungen und sich vorgestellt, wie schön es wäre, wenn sie als friedliches Gebet auf der ganzen Welt erklänge. Noch in der Nacht hat er diese Paraphrase geschrieben. Im Text heißt es: „Noch ist die Ukraine nicht gestorben“. Der tiefste Wunsch der Ukrainer ist eine bessere Zukunft und ein Leben in Freiheit. Und das Lied „Oj, u lusi tscherwona kalyna“ habe ich aufgenommen als Sinnbild für die Widerstandsfähigkeit und Stärke dieses Volkes. Es wird von allen gesungen, um die Armee anzufeuern. Das Lied ist viral gegangen in der Version von Pink Floyd.
Ist dieses Stück ein erstklassiges Beispiel dafür, was Musik bewirken kann?
Gromes: Genauso ist es. Seitdem ich in Kyjiw war, verfolge ich die Kanäle, die einen auch warnen bei Bombenangriffen. Bei einem der letzten Bombardements waren Menschen im Luftschutzbunker und sangen gegen die Angst an. Kunst kann gar nicht zu hoch eingeschätzt werden. Meine CD beginnt mit dem sehr gewichtigen Dvořák-Konzert und tieftraurigen Gebeten von Valentin Silvestrov und Hanna Hawrylez und endet mit dem hoffungsvollen Lied „Oj, u lusi tscherwona kalyna“. Hawrylez ist übrigens infolge des Zusammenbruchs der Infrastuktur im März 2023 an Herzversagen gestorben.
Musiker müssen außergewöhnliche Leistungen auf den Punkt liefern – und das vor großem Publikum. Brauchen Sie da bei Auftritten in der Ukraine besonders viel mentale Stärke?
Gromes: Ganz im Gegenteil, durch diese Situation war die Konzentration absolut. Ich hatte noch nie das Gefühl, so präsent zu sein wie in der Ukraine. Weil man weiß, jede Sekunde kann etwas passieren und eine Bombe einschlagen. Dadurch entsteht eine Dankbarkeit für den Moment und eine erhöhte Aufmerksamkeit, die letztlich den Flow für die Musik erleichtert. Jeder auf der Bühne weiß, wir spielen jetzt für das Leben und die Zukunft.
Werden Sie die CD zusammen mit dem Nationalorchester auch in der Ukraine vorstellen?
Gromes: Erst einmal nicht. Für Kyjiw machen wir vielleicht ein neues Projekt mit einem anderen Konzert. Das überlegen wir uns gemeinsam auf der Tour. Derzeit ist keine langfristige Planung in der Ukraine möglich, weil gerade wieder besonders verschärft Bomben gefallen sind. Über das Schicksal der Männer im Orchester wird von der Regierung außerdem immer sehr kurzfristig entschieden. Bislang hatte das Kulturministerum erreicht, dass gerade junge Männer, die Wettbewerbe gewonnen haben, eine auf sechs Monate befristete Befreiung vom Militär bekommen. Ob sie verlängert werden kann, ist immer ungewiss. Zum Glück dürfen die alle im November mit auf Tour kommen, auch nach Ingolstadt.
Wie gehen die wehrpflichtigen Musiker mit dieser Situation um?
Gromes: Als wir die CD in Polen aufgenommen haben, war die Militärbefreiung immer ein großes Thema beim Abendessen. Manche spielten mit dem Gedanken, nicht in die Heimat zurückzukehren, die haben ja gar keine militärische Ausbildung. Jeder dort hat einen Freund oder Bruder an der Front und hört Horrorgeschichten über den Ausrüstungsmangel. Das hundertprozentige Vertrauen in eine sinnvolle Strategie der Regierung ist nicht mehr da. Die Hoffnung, die man letztes Jahr noch gespürt hat, ist fast in Verzweiflung umgeschlagen. Viele haben mit Depressionen zu kämpfen und drücken ihren Schmerz und ihre Gram in der Musik auch aus. Das ist ein Grund, weshalb diese Aufnahme so berührend geworden ist.
Fällt es gerade männlichen ukrainischen Musikern schwer, auf eine derartige Ausnahmesituation ästhetisch zu reagieren?
Gromes: Natürlich. Jeder ringt mit sich selbst, ob er nicht doch auch mitkämpfen soll, kann, darf oder muss. Alle Männer zwischen 18 und 60 müssen sich jetzt beim Militär melden und kämpfen, weil es nicht genug Freiwillige gibt. Diese riesige Mobilisierungsaktion wirkt teilweise richtig brutal, weil Männer auf der Straße eingezogen und an die Front gebracht werden, ohne sich überhaupt zuhause verabschieden zu können. Manche sind jedoch nicht mehr bereit, für die Ukraine zu sterben und wollen lieber mit ihren Frauen und Kindern ihre Leben möglichst normal weiterführen. Aber auch das ist nicht möglich, wenn ständig Luftalarm ausgelöst wird. Es ist eine furchtbare Situation. Wir müssen auch auf die Toten schauen. Es sind einfach zu viele auf allen Seiten.
Wie verstehen Sie Ihr Engagement - möchten Sie die Ukraine moralisch unterstützen im Kampf gegen den russischen Terror?
Gromes: Ich möchte den Ukrainern zeigen, dass wir hier ein offenes Herz für sie haben und sie sehr bewundern und unterstützen. Ich möchte eben auch Licht bringen in Zeiten, in denen es nur noch Dunkelheit und Hoffnungslosigkeit gibt.
Wie hat der Krieg die Kulturszene in der Ukraine verändert?
Gromes: Die Künstler versuchen sich hartnäckig zu wehren und ihren Alltag möglichst aufrecht zu erhalten. Fast alle Konzerte, Theateraufführungen und Ausstellungen finden statt, allerdings unter dieser ständigen Bedrohung. Auch als ich in Kyjiw war, gab es Bombenalarm. Die Menschen dort haben gelernt, das nicht mehr so ernst zu nehmen. Sie sehen das als russischen Terror. Aber sie wollen nicht aufgeben, und von daher gehen sie oft nicht in den Luftschutzbunker und leben ihren Alltag weiter. Die ukrainische Luftabwehr ist ja auch sehr stark, sodass in Kyjiw selbst kaum etwas passiert.
Im Dezember 2023 haben Sie als SOS-Kinderdorf-Kulturbotschafterin die Einrichtung in Browary besucht. Wie war das für Sie?
Gromes: Es war sehr schwer, die Tränen zurückzuhalten. Die Kinder dort haben fast alle Eltern, die entweder im Krieg gefallen sind oder an der Front kämpfen. Viele haben sich gewünscht, dass ihre Eltern an Weihnachten heim kommen. Man hat fast allen angesehen, dass sie traumatisiert sind und schlimme Schicksale haben. Die Musik war für sie eine willkommene Ablenkung.
Wie gehen diese Kinder mit dem Krieg um?
Gromes: In vielen Augen sieht man eine Leere und Trostlosigkeit. Das waren keine normalen Kinder, die schreien und toben, sondern sie waren sehr still. Solch eine Traurigkeit habe ich noch in keinem anderen SOS Kinderdorf erlebt. Aber sie waren aufmerksam und neugierig auf das, was wir da tun werden. Für zwei der Kinder, die in Browary Geige gespielt haben, war unser Besuch ein Motivationsschub. Sie sind inzwischen an der Universität als Jungstudenten und dürfen sogar ins Ausland reisen, um dort aufzutreten.
DK
Das Interview führte Olaf Neumann.
Raphaela Gromes: „Dvořák: Cello Concerto“. Mit dem Ukrainischen Nationalorchester unter Leitung von Chefdirigent Volodymyr Sirenko. (CD/Digital/Stream. Sony Classical). In Ingolstadt wird Raphaela Gromes das Dvořák-Konzert zusammen mit dem ukrainischen Orchester am 26. November im Theaterfestsaal spielen.
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