Ingolstadt
"Hier ist meine Heimat"

<DK-XY_trifft>DAS PORTRÄT ZUR FUSSBALL-EM</DK-XY_trifft> Müslüm Kirpac aus der Türkei lebt seit 1978 im Piusviertel

10.06.2021 | Stand 23.09.2023, 19:06 Uhr
"Das Piusviertel ist sehr attraktiv", sagt Müslüm Kirpac, hier vor seinem Geschäft für Computerdienstleistungen an der Ettinger Straße, das er mit Jason Plows seit 1995 betreibt. Der 49-Jährige gehört dem BZA Nordwest an und leitete mehrere Jahre lang den CSU-Ortsverband im diesem Stadtbezirk. Kirpac wünschte sich, dass Blumen der Ladeninhaberin nebenan mit aufs Foto kommen. Er tippt, dass die Türkei heute Abend 2:1 gegen Italien gewinnt. Der gebürtige Türke freut sich auf das Spiel. Anpfiff ist um 21 Uhr. −Foto: Silvester

Ingolstadt - Der Freistaat Bayern meinte es mit den kleinen Türken offenbar besonders gut: Sie wurden in den Grundschulen des Freistaats in eigenen "Türkenklassen" komplett in ihrer Muttersprache unterrichtet.

Deutsch bräuchten sie nicht können, hieß es bis in die 80er-Jahre, schließlich kämen sie aus "Gastarbeiterfamilien", mit der Betonung auf Gast: Sie würden also eines Tages wieder in die Türkei zurückkehren, so dachte man. Die Qualifizierung der Kinder für höhere Bildung lohne da natürlich nicht.

"Eigene Türkenklassen - das gab es nur in Bayern! ", erzählt Müslüm Kirpac mit wohlwollendem Grinsen. Er hat eine erlebt. 1976, im Alter von viereinhalb Jahren, kam er mit seinen Eltern und zwei Geschwistern aus Urfa in Ostanatolien nach Kösching; der Vater hatte eine Stelle bei Audi gefunden. In Kösching besuchte der Bub eine reguläre erste Klasse. Doch nach dem Umzug 1978 in die Rathgeber-straße im Ingolstädter Piusviertel musste er die Stufen zwei bis vier in einer "Türkenklasse" absolvieren. In Haunwöhr. "Man hat uns Türken in alle Richtungen geschickt. Die einen nach Unsernherrn, andere an die Stollstraße oder an die Lessing-straße. " Eine Benachteiligung, sagt Kirpac. Doch er und seine mittlerweile vier Geschwister hielten fleißig mit. "Sie und ihre Kinder sprechen akzentfreies Deutsch. " Und er sowieso.

Neben seinem Hauptberuf als Unternehmer arbeitet er als Dolmetscher und Übersetzer. Zudem gibt er für Bildungsträger Bewerbungstraining und Integrationskurse.

Kirpacs gesamte Bildungsbiografie mutet an wie aus dem Bilderbuch der Sozialdemokratie (obschon er ein überzeugtes CSU-Mitglied ist). Nach dem Quali an der Herschel-Hauptschule absolvierte er bei MBB in Manching eine Lehre zum Industrieelektroniker, arbeitete an Flugzeugen und später im Rechenzentrum. Kollegen erkannten die Talente des jungen Mannes. "Sie haben mich davon überzeugt, wieder auf die Schule zu gehen. " Auf der Berufsaufbauschule erwarb er die Mittlere Reife, auf der FOS das Fachabitur. Gleich danach, im Jahr 1995 , gründete er gemeinsam mit dem Softwareexperten Jason Plows aus England an der Ettinger Straße ein Geschäft für Dienstleistungen rund um den Computer. Die beiden betreiben es bis heute.

Ende der 90er eröffnete Kirpac in Haunwöhr einen weiteren IT-Fachbetrieb, beriet Firmen. 2011 gab er den Laden auf. "Ich hatte 16-Stunden-Tage. " Trotz erschwerter Startbedingungen hat er viel erreicht. "Wer sagt, er habe keine Bildungschance, hat sich entweder nicht genug informiert oder nicht genug informieren lassen. Es gibt immer einen Weg! "

Im Oktober wird Kirpac 50. Seine Frau ist Lehrerin, ebenfalls mit Wurzeln in der Türkei, aufgewachsen in Ludwigshafen. Das Paar hat zwei Töchter, zwei und vier Jahre alt. Die Familie lebt sehr gerne im Nordwesten. "Hier ist meine Heimat. " Kirpac wollte nie woanders leben - schon gar nicht außerhalb seines Piusviertels.

Als Mitglied des Bezirksausschusses (BZA) Nordwest setzt er sich für dessen Weiterentwicklung ein - gegen die zähen Klischees vom "Ghetto". "Das stimmt nicht! Wir leben hier zentral und unbesorgt, genießen das viele Grün. " Denn das präge den Bezirk Nordwest wider die Vorurteile stark. Als die Mustersiedlung ab den 1950er-Jahren auf freiem Feld errichtet wurde, gab es schließlich Platz fast ohne Ende. Trotz des heutigen Migrantenanteils von circa 70 Prozent - einer der höchsten in der Republik - habe das Zusammenleben immer funktioniert, sagt Kirpac, schon in seiner Kindheit. "Man war hier nie ein Fremder. Man kennt sich. "

Wegen der weit verbreiteten Unkenntnis über die Attraktivität des Piusviertels wünscht er den Bürgerinnen und Bürgern dort mehr Beachtung in der Lokalpolitik. "Ich glaube, dass viele Ingolstädter Politiker - aus allen Parteien - noch nie hier waren. " Das finde er schade.

"Der Mensch muss immer im Vordergrund stehen - überall. " Das ist für Kirpac das Wichtigste. Ein Vorbild dafür sei Peter Schnell: "Er hat sich sehr für die Türken in Ingolstadt eingesetzt. Wir haben ihn immer gesehen. Es war für uns etwas Besonderes, einen Bürgermeister so nah zu haben. " Kirpac ist nicht zuletzt aus Bewunderung für die OB-Legende Schnell in die CSU eingetreten, erzählt er.

Und die Türkenklassen seiner Kindheit hat er der Partei gewiss auch schon verziehen.

DK

Christian Silvester