Ingolstadt
Zwischen Pest und Corona

Peter Reissers wunderbarer Wienerliederabend "Die Wöd steht auf kan Fall mehr lang!" in der MTV-Gaststätte

30.10.2020 | Stand 23.09.2023, 15:08 Uhr
"Es wird ein Wein sein": Peter Reisser als singender Wirt in der MTV-Gaststätte. −Foto: Herbert

Ingolstadt - Das schönste Lied?

Ist sicherlich Agnes Palmisanos "Schdeam in Wean" mit all seinen vergnüglich-morbiden Aufzählungen verschiedenster Möglichkeiten zu Tode zu kommen: Wasserleiche, Herzinfarkt, vom Hund zerfetzt, vom Wurm zersetzt, vom Alkohol dahingerafft, hochbetagt, reich oder ganz jung, Gruft oder Grube: Egal wie man stirbt, Hauptsache in Wien. "Nur wannst in Wean schdirbst, dann hast gwiss a scheene Leich. " Das swingt so trotzig federleicht, dass man gar nicht anders kann, als im Takt mitzuwippen. Wie ist man jetzt gleich wieder aufs Sterben gekommen?

Ach ja, über den "Lieben Augustin". Der Legende nach war der Wirtshausmusikant anno 1679 zu Pestzeiten betrunken in eine Grube mit Pesttoten gefallen. Als er am nächsten Morgen quicklebendig aus der Totengrube herauskletterte, münzte er das Ganze zu einer Ballade und machte daraus einen Publikumshit. "Jeder Tag war a Fest, und was jetzt? Pest, die Pest! " Im Publikum wird bitter aufgelacht. Denn so wie Peter Reisser diese Zeilen aus dem bekannten Lied vorträgt, denkt jeder sofort an die Seuche, die gegenwärtig die Welt in Atem hält: Corona. Und das ist auch die Ausgangssituation in seinem Liederabend. "Die Wöd steht auf kan Fall mehr lang! ", der am Donnerstagabend in der MTV-Gaststätte Premiere feierte - kurz bevor der nächste Lockdown das Kulturleben abermals für den ganzen November stilllegt.

Im Frühjahr, während des ersten Lockdowns, war dem Schauspieler die Idee zu dem Programm gekommen. Schon immer hatte Peter Reisser, der gebürtige Wiener, ein Faible für das Wienerlied. Jetzt wollte er mit Hilfe dieser Lieder von der Gegenwart erzählen. Von einem Wirt, der Corona-bedingt keine Gäste mehr hat. Der allein in seiner Wirtsstube sitzt und Trübsal bläst. Und weil diesem emotionalen Zustand des grantig-sentimentalen Unbehaustseins ein ganzes musikalisches Genre gewidmet ist, hat Peter Reisser einen Abend aus alten und neuen Wienerliedern zusammengestellt, die nicht nur einem sozio-kulturellen Phänomen nachspüren, sondern den aktuellen Gemütszustand der Bevölkerung abbilden. Heute wird noch gelebt, getrunken und gespielt, morgen drohen Lockdown, Schließung der Wirtshäuser und Theater, Weltuntergang. Darauf ein Glas Wein und ein schönes, melancholisches Wienerlied über die Vergänglichkeit.

In der MTV-Gaststätte und vor weit auseinander sitzendem, genau abgezähltem Publikum reichert sich das Szenario schnell mit einem Schuss Realitätsgehalt an, wenn Peter Reisser als Wirt in Hosenträgern und mit schmutziger Schürze Tische desinfiziert, Abstandsflächen ausmisst oder "Abstand einhalten"-Schilder aufhängt (szenische Einrichtung: Annette Reisser). Hier hat der Wirt Gesellschaft von zwei gestrandeten Musikern und einer Flasche Wein. Und hier kann er sich voll und ganz seiner Weltuntergangsstimmung hingeben, kann schimpfen, fluchen, den Tod aufs Zärtlichste besingen und die Wien- und Weinseligkeit voll auskosten.

17 Lieder hat Peter Reisser ausgewählt, die zwischen Couplets, Straßenliedern und Kabarett oszillieren - mit Texten von Johann Nestroy, André Heller, Roland Neuwirth oder Josef Hader. Wütendes, Inniges, Verstörendes, Derbes, Pathetisches, Satirisches. Über Gott und die Welt, das Werden und Vergehen, Rausch und Gemütlichkeit, den Tod im Allgemeinen und den Wiener im Besonderen. Und Blerim Hoxha hat ihm dazu nicht nur die feinen musikalischen Arrangements geschrieben, sondern bringt mit Witz und Schmelz und Verve seine Geige zum Singen, während Martin Schärtl sein Akkordeon seufzen, grollen, fauchen, tanzen lässt.

Vielleicht kann nur ein echter Wiener die Wienerlieder so singen. Mit vui Gfui! Peter Reisser jedenfalls findet stets den richtigen Ton, ob er nun mit Wienerischen Kraftausdrücken um sich wirft (die auf dem Programmzettel dankenswerterweise übersetzt werden), vom Grant in den Schmäh kommt und vom stillen Stieren zu beduselter Geschwätzigkeit, oder das finale "Wenn der Herrgott net will" fast wie ein Gebet vorträgt. Es ist ein Abend, der mit ganz wenig Aktion auskommt - hier ein Slapstick-Getorkel, dort der Tanz der Salz-und-Pfeffer-Streuer -, der von den wirklich wichtigen Dingen erzählt und irgendwie auch tröstlich ist. Dafür gibt's nach einer guten Stunde viel Applaus, zwei Zugaben - und als Premierengeschenk eine Flasche Wein.

DK


ZUM STÜCK
Theater:
Stadttheater Ingolstadt,
MTV-Gaststätte
Szenische Einrichtung:
Annette Reisser
Ausstattung:
Stefanie Schweiger,
Manuela Weilguni
Alle geplanten Vorstellungen im November entfallen wegen des neuen Lockdowns.
Informationen unter
https://theater. ingolstadt. de/

Anja Witzke