Zur Geisterstunde Richtung Goethestraße

25.08.2008 | Stand 03.12.2020, 5:39 Uhr

Abfahrt 0.15 Uhr an Bussteig 1: Manfred Matthis steuert INVG 324, den jüngsten Bus der Flotte. Seine Schicht dauert von 20.35 bis 4.04 Uhr. Seit einigen Jahren fährt er nur noch nachts. Das mag er lieber.

Ingolstadt (DK) „24 Stunden Ingolstadt“ lautet der Titel der Sommerserie im DK. In zwei Dutzend Geschichten wird jeweils eine Stunde des Tages an einem anderen Ort in Ingolstadt erzählt, um den ganz normalen Alltag zu schildern. Heute: Von Mitternacht bis 1 Uhr am Omnibusbahnhof und in Linie N7.

Wird Felix bis zur Zielhaltestelle die Beherrschung wahren? Die vier erreichen Bussteig 6. Hier geht es nach Stammham, Appertshofen und Kasing; die jungen Leute sind also vom Land rein. Felix hält gut mit, lässt sich lässig auf der metallenen Sitzgelegenheit nieder. So ernst kann die Lage nicht sein. Seine Begleiterinnen plappern weiter. Wochenendroutine.

Es schaut schlimm aus

In den Uhren unter den Dächern aus Glas und Metall treffen sich alle Zeiger auf der Zwölf. Ab jetzt ist Sonntag, der 24. August. Eine kalte Sommernacht. Der Regen hat aufgehört. Am Busbahnhof schaut es schlimm aus. Vor dem verbarrikadierten Kiosk und dem in matte Nachtbeleuchtung getauchten Bäckereiladen liegen zerschepperte Bierflaschen. Offenbar waren sie voll, als sie der Zerstörung anheim fielen. Irgendjemand hat die Mülltüten aus allen blechernen Abfalleimern gerissen und an den Steigen 1 und 4 auf einen Haufen geworfen. Keiner nimmt davon Notiz. Zwei Dutzend Jugendliche warten auf die Nachtbusse. Den meisten Gaststättenbesuchern scheint es jetzt noch zu früh für die Heimreise.

Dann ein Brummen aus drei Richtungen. Die Busse rollen heran. Fast alle auf einmal. Die Motoren verstummen. Erst mal Pause. Die Stimmung an Bussteig 4 perlt. Bernd (19) ist allein mit vier jungen Damen unterwegs – Sabrina, Padi, Sophie, Chrissi – und darauf ziemlich stolz, wie er betont. "Ich bin der Aufpasser der Mädels!" Seine lächelnden Begleiterinnen scheinen wiederum stolz auf ihren heiteren Kavalier. Alle fünf beseelt die Euphorie eines gelungenen Abends. Ein stattliches Programm haben sie absolviert: Glockn, Suxul, Lago Bar. "Überall Riesengaudi!" Für den Eiskeller habe leider die Zeit nicht mehr gelangt. Jetzt hat der Spaß erst mal Pause. Es geht heim. Nach Großmehring. Abfahrt 0.15 Uhr.

Den Bus ziehen die jungen Leute jedem Auto vor. Zumindest nachts. "Da kann jeder was trinken, weil keiner fahren muss", sagt Bernd. "Und man kommt sich vor wie in einer Limousine", findet Sabrina. Morgens schaue das anders aus: "7.05 Uhr ab Großmehring – ein Grauen! So voll ist der Bus da immer."

0.10 Uhr: An Steig 1 treffen gleichzeitig zwei Nachtbusse ein: N1 (Irgertsheim via Gerolfing) und N7 (Goethestraße/Gutenbergstraße). Den ersten ziert die Werbung eines Müllentsorgers, der zweite ist noch weiß. Zwei junge Frauen brechen gen Westen auf, vier junge Frauen und zwei heranwachsende Herren gen Osten. Beide Busse starten um 0.15 Uhr.

Alles hängt schläfrig in den Sitzen. Dann und wann unterbricht eine klare Frauenstimme die von sanftem Brummen begleitete Ruhe. "Nächster Halt: Nordbahnhof/West". Die Ampel vor der Rechbergstraße ist ausgeschaltet. Auf Höhe des düsteren Bahnhofs erste Gähnlaute. Der Abend war für einige anstrengend. Die Ampel an der Hindenburgstraße blinkt.

Nächster Halt: Nürnberger Straße. Niemand steigt ein oder aus. Ein blondes Mädchen in Schwarz sitzt betont cool, SMS tippend, beim Ausgang, die Turnschuhe auf dem Sitz gegenüber. Hinter ihr unterhalten sich – nicht minder cool – die zwei Jungen über die Vorzüge des spanischen Ferienorts Lloret de Mar ("Geil, Alter!") im Vergleich zu Ibiza ("Auch geil!"). Nächster Halt: Pestalozzistraße. Die beiden diskutieren jetzt den Spaßfaktor unter dem Aspekt autoritärer Einmischung. "Als wir da mit der D-Jugend waren, haben wir schon um zehn daheim sein müssen!" – "Um 10? Echt scheiße!"

Nächster Halt: Geibelstraße. Die zwei Frauen vorne verlassen den Bus. Die betont lässige Blonde tippt weiter. Die Jungs auf der hintersten Bank sind immer noch in Lloret de Mar. Letzter Halt: Gutenbergstraße. Alle steigen aus.

Manfred Matthis, der Busfahrer, hat jetzt ein paar Minuten Pause. Seit 20.35 Uhr sitzt er hinter dem Steuer. Bis nach Titting ist er an diesem Abend schon gekommen. Nördliches Altmühltal. Eine Sonderfahrt zur Brauerei. Bis jetzt war es eine ganz normale Nacht. Fast. "Am Anfang meiner Schicht gab’s a bisserl Theater. Da hat einer am Busbahnhof aus den Abfalleimern alle Müllbeutel rausgerissen und auf einen Haufen geschmissen", erzählt Matthis. "Ich bin dann rüber zur Polizei und hab’s gemeldet. Die haben den Burschen gleich mitgenommen."

INVG 324 steht einsam an der düsteren Haltestelle Gutenbergstraße. Draußen rührt sich nichts. Er fahre seit ein paar Jahren nur noch nachts Bus, erzählt Matthis. Das sei ihm einfach lieber. "Mehr Ruhe, weniger Verkehr." In der Stadt sei die Arbeit eh meistens unproblematisch. "Nur raus wird’s manchmal schwierig." Da gebe es schon ein paar "Stresslinien", wie er es nennt. Busse voller junger Discobesucher, die grölend in die Vororte reisen. "Aber erst so ab drei." Und selbst wenn. "Mei", sagt Matthis gelassen, "das gehört eben zu unserem Beruf."

Der jüngste Bus der Flotte

Um 0.33 Uhr startet er den Motor. Über die Regensburger Straße geht es zurück auf die Goethestraße. Sein Bus sei der jüngste in der INVG-Flotte. "Hat erst 1589 Kilometer drauf." Ein prüfender Blick aufs Armaturenbrett. "Komma sieben!" Zwischen 300 und 500 Kilometer sei ein Linienbus am Tag unterwegs, erklärt er. "Knapp vor der Million werden sie dann ausgemustert."

Nummer 324 rollt gemächlich über leere Straßen. Matthis hält Tempo 30. Das sei nachts üblich, um die Zeiten einzuhalten. Da kaum jemand aus- oder zusteige, käme der Bus bei höherem Tempo ständig zu früh an. "Aber tagsüber muss man schon 50 fahren, sonst schafft man’s nicht."

Der Busbahnhof kommt in Sicht. Leer, in schmutziges Licht getaucht. Manfred Matthis hat jetzt Pause. Er schaltet die Frontanzeige auf "Betriebsfahrt". Dann brummt INVG 324 davon. Es ist 0.41 Uhr.

Wenig später geht ein Bus der Linie N3 in Position. Um ihn herum herrscht Stille. Gegen 1 Uhr treffen fidele junge Leute ein. Der nächste Schwung will heimchauffiert werden. Das Brummen schwillt an. Die Busse kommen. Die Fahrer lassen die Motoren verstummen. Ihre Nacht ist noch lang.