Ingolstadt
Warten auf ein normales Leben

Podiumsgespräch zur Interkulturellen Woche: Migrantinnen erzählen von ihren Hoffnungen

03.10.2020 | Stand 23.09.2023, 14:32 Uhr
Zuwanderung ein Gesicht verleihen: Die Migrantinnen Ceren Boncukcu (l.), Linda Qasem und Nour E. (r.) sprachen mit Susanne Greiter über ihr Leben, ihre Wünsche und Hoffnungen. −Foto: Brandl

Ingolstadt - Migration bewegt die Stadt, Migration ermöglicht Vielfalt. Doch wie lässt sich diese Vielfalt leben und als Bereicherung für alle Beteiligten erfahren? Diese Fragen erörterte jetzt anlässlich der bundesweiten Interkulturellen Woche, die noch bis zum 4. Oktober dauert, ein Podiumsgespräch im Rahmen zweier kommunaler Integrationsprojekte.

Die Reihe nähert sich in Dialogen dem Thema Migration nicht aus politischer Sicht, sondern aus der Perspektive von Betroffenen, die in Ingolstadt leben. Auf dem Podium, das diesmal wegen Corona in die Cafeteria im Bürgerhaus Neuburger Kasten verlegt wurde, wird nicht einfach über Flucht und Zuwanderung gesprochen, Migration erhält hier ein Gesicht, das erzählt. Sie tritt damit hervor aus der nüchternen Betrachtung und der flüchtigen Begegnung auf der Straße, die meist keinen Spielraum für gegenseitiges Kennenlernen lässt und schon gar keine Vorurteile oder Ängste auszuräumen vermag.

Eines der Gesichter an diesem Abend gehört Nour. Die staatenlose Mutter von drei Kindern ist palästinensischer Herkunft und in Jordanien geboren. Was sie aus ihrem Leben erzählt, gleicht einer Odyssee durch Flüchtlingscamps vom Nahen Osten bis nach Deutschland. Zehn Jahre verbrachte die Familie in Dubai, wo der Mann Arbeit hatte, sie später aber verlor. Seit vier Jahren lebt sie nun in einer Gemeinschaftsunterkunft in Ingolstadt.

Den Vater würden die Kinder derzeit nur selten sehen, weil er in Bonn seinen Master mache, berichtet die Frau. Sie erzählt von großen und vermeintlich kleinen Sorgen, etwa der, dass der Sohn Internet für den Schulstoff brauche, sie aber ohne Pass vergeblich versucht habe, welches zu bestellen. So bleibe nur, sich nahe der Unterkunft mühsam über öffentliche WLAN-Netze zu behelfen. Gefragt nach ihren Träumen formuliert Nour verzweifelt eine Gegenfrage: "Wie viele Jahre müssen wir noch auf eine Nationalität und ein normales Leben warten?"

In den Schilderungen von Nour und den beiden anderen Frauen, die die Runde ergänzen, wird immer wieder deutlich, wie wichtig das Thema Bildung für Migranten offenbar ist. Wie sehr sie darauf bedacht sind, den eigenen Kindern einen guten Schulabschluss und bestenfalls ein Studium zu ermöglichen.

Ceren Boncukcu hat das geschafft. Die 23-jährige Türkin ist in Deutschland geboren und studiert Humanmedizin in München. Der Weg dorthin sei voller Hürden gewesen, berichtet sie. Eine Empfehlung für das Gymnasium habe sie nicht bekommen, stattdessen habe der Lehrer gesagt, sie gehöre auf die Hauptschule. "Das war demotivierend", sagt sie. Boncukcu beklagt die Uninformiertheit mancher hier und wünscht sich mehr Austausch zwischen den Kulturen und eine "Heimat ohne Zwang", in der Grenzen überbrückt würden, wie sie es formuliert. Sie sagt aber auch: "Ich habe zwei Heimaten." Ein Kopftuch trage sie derzeit nicht, so die junge Muslima. Für die Zukunft wolle sie das jedoch nicht ausschließen.

Die gebürtige Jordanierin Linda Qasem trägt aus religiöser Überzeugung Kopftuch, wie sie sagt. Für sie sei das Kopftuch aber nicht Ausdruck einer Parallelgesellschaft. Ihr Vater sei gegen das Kopftuch gewesen, weil es seiner Ansicht nach beruflich Nachteile bringe. Diesen Punkt thematisiert auch Moderatorin Susanne Greiter, die darauf aufmerksam macht , dass in Deutschland Gerichte darüber entscheiden müssten, wie mit dem Kopftuch im Beruf umgegangen werde.

Ob Nour ihr Kopftuch in der Arbeit tragen kann, darüber hat sie sich womöglich noch gar keine Gedanken gemacht. Sie würde gerne eine Ausbildung zur Altenpflegehelferin beginnen, hätte sogar die Möglichkeit dazu. Doch der frühe Arbeitsbeginn (von der Unterkunft aus fahren um diese Zeit keine Busse) und die Frage nach der Betreuung der Kinder hindern sie noch daran. Den Mut verliert sie deshalb offenbar nicht. Greiter zitiert Nour aus einem Vorgespräch mit ihr: "Ich habe vieles erlebt, was ich nie wieder erleben möchte. Das Leben hat mich oft auf den Boden geworfen, doch ich werde niemals liegen bleiben."

Qasem ist inzwischen angekommen in ihrer neuen Heimat. Die 48-jährige studierte Tierärztin hat ihre Kinder großgezogen und ist heute Mitglied im Migrationsrat. "Ich war nie menschenscheu, habe mich nie isoliert, habe viele Freunde und meine Sprache verbessert", erzählt sie. Dass sie wegen ihres Kopftuchs an einer früheren Arbeitsstelle einmal von einem Besucher abgelehnt wurde, wie sie erzählt, macht die Zuhörer im Raum und Greiter gerade wohl auch deshalb fassungslos.

DK

Michael Brandl