Dahoam in der Stadt

24.08.2016 | Stand 02.12.2020, 19:23 Uhr
Der ehemalige Stadtbrandrat Otto Bankmann in "seiner" Griesbadgasse. −Foto: Cornelia Hammer

Ingolstadt (DK) Auch der Bezirk Mitte hat sich in den vergangenen Jahrzehnte stark gewandelt. Zwei alteingesessene Bewohner erzählen vom Aufwachsen im Zentrum – und welche Bedeutung der einzig wahre Ingolstädter Fluss, die Schutter, für sie besaß.

Wer heute nach Ingolstadt zieht, kann sich kaum vorstellen, wie sehr sich die Stadt in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat, da bildet auch der zentrale Stadtbezirk Mitte keine Ausnahme: Der Bau der Glacisbrücke, die Umgestaltung des Gießereigeländes, die Ausweisung von Bayerns erster Fußgängerzone und zahllose weitere Veränderungen verliehen dem Bezirk über die Jahrzehnte einen völlig anderen Charakter.

Heinrich Niedermeier wuchs in der Schulstraße auf, 30 Jahre lebte er dort. „Wir waren so viele Kinder“, sagt der heute 84-Jährige. „Allein in der Schulstraße waren es 75.“ Sie alle hatten nicht viele Spielsachen, aber Tatendrang. „Um die Obere Pfarr und das Münster war ein Baumgarten. Da sind wir rumgekraxelt“, erzählt Niedermeier. „Wir haben uns eben gegenseitig unterhalten.“ Einen wesentlichen Teil ihrer freien Zeit verbrachten sie damals auch in und an der Schutter, jenem Fluss, der heute nur noch ein Schattendasein fristet, nachdem er 1970 weitgehend aus der Stadt verbannt worden ist. Doch immer noch sagen gebürtige Schanzer wie Niedermeier stolz, sie seien mit Schutterwasser getauft worden.

Die Schutter verlief vom Schutterturm aus durch die Griesbadgasse und an der Hohen Schule vorbei durch die Schleifmühle, die Wagnerwirtsgasse und die Schäffbräustraße weiter Richtung Schutterstraße, bis sie dann schließlich vor dem Neuen Schloss in die Donau mündete. „Wir haben darin gebadet, sind geschwommen oder mit Kanus gefahren“, sagt Niedermeier. Die 80 Zentimeter Tiefe hätten dafür gereicht. Später lernte er bei Radtouren mit seinen Eltern auch die Schutter außerhalb der Stadtmauern kennen. Der Fluss sollte ihn fortan nicht mehr loslassen.

Für seine Umschulung vom Volksschul- zum Realschullehrer musste Niedermeier eine Arbeit schreiben – er wählte die Schutter als Thema. Durch seine Arbeit in den Archiven hatte er so viele Fakten zutage gefördert, dass er beschloss, sie mit den Ingolstädtern zu teilen. 2002 brachte er ein Buch heraus, das sich so gut verkaufte, dass es ein Jahr später nachgedruckt werden musste. Seitdem gab Niedermeier auch regelmäßig Führungen, erst vor wenigen Jahren gab der pensionierte Lehrer dieses Hobby auf. Bei seinen Führungen erklärte er auch, warum man die Schutter damals in den Künettegraben umleitete und sie nicht mehr durch die Stadt fließen ließ: „Die Schutter war ein Pflegefall, deswegen hat man sie hinausgeworfen.“ Sie hatte kaum Gefälle, dadurch trug sie viel Schlamm, der mindestens einmal im Jahr ausgeräumt werden musste – was sehr teuer war. Zudem gab es immer mehr Verkehr, da störte der längst nutzlos gewordene Fluss. Deswegen glaubt Niedermeier auch nicht an eine Rückkehr des Flusses in die Stadt – auch wenn sich so mancher Ingolstädter das wünschen würde. „Ich fürchte, bei dem Verkehr und den engen Straßen hat die Schutter keinen Platz.“ Heute wohnt Niedermeier im Westen in der Nähe des Klinikums, nur selten kommen und er seine Frau noch in die Stadt. „Die Innenstadt ist schon unruhiger geworden. Im hohen Alter ist das nicht mehr so leicht“, sagt er.
 
Otto Bankmann wohnt mit 86 Jahren noch immer in der Innenstadt, in der Griesbadgasse. Auch er weiß, was Wandel bedeutet. „Ich glaube, keine drei Leute in der Griesbadgasse sind noch von früher“, sagt er. Früher, da standen in der Nachbarschaft auch noch mehrere Höfe. Sie sind längst schicken Altstadtwohnungen gewichen – deren Bewohner zum Teil nicht mehr wissen, dass einst die Schutter an ihren Häusern vorbeifloss. „Hier verlief der Fluss, bis vor zu dem rosa Haus. Das war früher die Griesmühle“, erzählt Bankmann und deutet seine Straße entlang. Als er ein Kind war, da marschierten sie durch die Schutter, beobachten darin kleine, weiße Fische, planschten im Freibad, das noch mit Schutterwasser gefüllt war und übten sich im Schlittschuhlaufen auf dem Künettegraben – bis dann die Schutter dorthin umgeleitet wurde und der Graben nicht mehr gefror. Wenigstens seien die wenigen Keller, die es entlang des Flussbettes gab, danach nicht mehr bei Hochwasser vollgelaufen, sagt Bankmann.

Eine Veränderung, an die er sich noch gewöhnen muss, ist der neue braune Anbau an die Alte Anatomie, die seit Jahrzehnten das Medizinhistorische Museum beherbergt. Der Anbau steht unmittelbar vor Bankmanns Balkon. Wenn Besuch da ist, werde er schon mal spöttisch gefragt: „Na, hast du keine andere Farbe gefunden?“, erzählt Bankmann.

Zu dem angrenzenden Grundstück hat er ohnehin eine besondere Beziehung. Seine Eltern hatten es 1940 gekauft, sie errichteten dort eine Wäscherei. „Die Anatomie war wie eine alte Burg. Für uns war der Turm ein perfekter Spielplatz“, erinnert sich Bankmann, der nach der Schullaufbahn in der elterlichen Wäscherei anfing und dort blieb – bis seine Eltern die Wäscherei in den 70er-Jahren aufgaben. Die Stadt hatte ihnen den Grund abgekauft, um das Medizinhistorische Museum mit seinem heute so charakteristischen Garten eröffnen zu können. Otto Bankmann musste nun – mit Anfang 40 – völlig neu starten. Er entschied sich, da er schon seit seinem 14. Lebensjahr Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr war, für den Beruf des Feuerwehrmannes und wurde Teil der ständig besetzten Wache, aus der später die Berufsfeuerwehr werden sollte. Dabei brachte er es bis zum Stadtbrandrat, mit 60 ging er dann in den Ruhestand. „Ich bin jetzt schon seit über 25 Jahren daheim, aber ich weiß nicht, wo die Zeit hin ist“, sagt Bankmann.

Auch nach dem Tod seiner Frau im vergangenen Jahr trifft er sich regelmäßig mit Bekannten in der Stadt. Seinen Sohn und seine Enkel, die ihn oft zu Hause besuchen, zieht es genauso immer wieder in die Innenstadt, auch wenn sie dort nicht mehr wohnen. Sein Sohn sei eigentlich jeden Tag dort, sagt Bankmann. „Es ist wohl so, dass man da, wo man aufgewachsen ist, einfach dahoam ist.“