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Ein neues Frauenbild gegen die alten Zöpfe

Wie die Mädchen das Gymnasium eroberten: Schülerinnen im Gespräch mit Helga Seifert (88), Studiendirektorin a. D.

19.07.2013 | Stand 02.12.2020, 23:53 Uhr

Rückkehr ans Katherl nach 26 Jahren: Helga Seifert im Kreis der Mädchen der 10 d. Die 88-Jährige hat Pionierarbeit für den Weg junger Frauen zu höherer Bildung geleistet. Alte Rollenbilder à la „Heimchen am Herd“ kennen die Schülerinnen heute nur noch aus Erzählungen. - Foto: Strisch

Sie repräsentiert den Wandel der Geschlechterrollen in den 60er und 70er Jahren idealtypisch: Helga Seifert, geboren 1924, zog als erste Frau in das Direktorat eines staatlichen Ingolstädter Gymnasiums ein. Von 1965 bis 1987 war sie die stellvertretende Leiterin des Katharinen-Gymnasiums. Dort baute sie – damals ein Novum – den sozialwissenschaftlichen Zweig auf, der einiges dazu beigetragen hat, dass immer mehr Mädchen den Weg zum Abitur wählten. Die Geschichte des Katharinen-Gymnasiums spiegelt – ebenfalls idealtypisch – einen der markantesten Wandlungsprozesse der jüngeren Vergangenheit wider: Eine kleine, mit Vorurteilen bedachte Minderheit entwickelte sich zur Mehrheit. 53 Prozent aller Gymnasiasten sind heute weiblich; am Katherl natürlich noch mehr.

Jetzt kehrte Helga Seifert nach 26 Jahren hierher zurück. In der Klasse 10 d (sechs Jungs, 19 junge Frauen) beantwortete die 88-Jährige die Fragen der Jugendlichen und erzählte, wie es die Mädchen geschafft haben, das Gymnasium zu erobern.

 

Frau Seifert, wie haben Sie das Katherl in Erinnerung?

Helga Seifert: Ich habe es in allerbester Erinnerung! Ich wünsche allen Lehrern, dass es ihnen genauso geht. Ich habe hier sehr viele Änderungen erfahren. Als ich herkam, war das ein reines Mädchengymnasium – was mir gar nicht gepasst hat!

 

Wie war es in Ihrer Schulzeit?

Seifert: Ich bin in einem Gymnasium groß geworden, da waren wir sechs Mädchen und 32 Burschen in der Klasse. Mädchen besuchten damals vor allem Haushaltungsschulen oder Bürgerschulen, wo sie im häuslichen Bereich unterrichtet wurden, also schneidern und derlei. Es waren nur sehr wenige Mädchen am Gymnasium. Ich bin meinen Eltern sehr dankbar, dass sie mich geschickt haben. Das war der Anfang. Nach dem Krieg wurde ich aus meiner Heimat im Sudetenland rausgeworfen. Ich habe verschiedene Berufe hinter mir. Ich war zwei Jahre Schweinemagd, ich war Dienstmädchen und fünf Jahre Sekretärin. Erst mit 31 Jahren habe ich mit dem Studium begonnen. Ich wollte unbedingt Lehrerin werden.

 

Warum waren früher so wenig Mädchen am Gymnasium?

Seifert: Das Bild der Frau sah damals noch so aus: Studieren braucht sie nicht, denn sie heiratet ja eh, und daher soll sie auf mittlerer Ebene firm sein. Die Ausbildung in der Bürgerschule war nicht schlecht, sie entsprach der Mittleren Reife.

 

Was musste sich ändern, was musste passieren, damit mehr Frauen auf Gymnasien gingen?

Seifert: Es hat sich sicher so ergeben nach dem Krieg. Da war nichts vorhanden, jeder musste gucken: Wie kommst du durch? Da waren gerade nach 1945 die Frauen sehr gefragt. So viele Väter waren im Feld geblieben, und es gab so viele Frauen, die ihre Familien, ihre Kinder ganz allein durchbringen mussten. Sie mussten schauen, wo sie bleiben, und das hat die Rolle der Frauen in der Wirtschaft nach oben gebracht! Denn die haben ja auch viel Männerarbeit übernehmen müssen. Da hat sich das alte Bild von der behüteten Hausfrau sehr stark verändert. Ich glaube, die Notwendigkeit, sich in Männerberufen durchzusetzen, hat den Frauen auch neue Freiheiten gebracht. Dazu gehörte eine Selbstbestätigung und Anerkennung in der Gesellschaft, nicht nur als Ehefrau.

 

Würden Sie also sagen, dass nicht so viele Mädchen auf das Gymnasium gegangen wären, wenn der Krieg die Rolle der Frau nicht so stark verändert hätte?

Seifert: Es hätte sich ändern müssen, so oder so! Es hätte sich sicher auch geändert, aber vielleicht nicht so schnell. Der Krieg und seine Folgen haben mitgespielt, aber nicht allein. Denn auch in der industriellen Entwicklung und im Handwerk hat sich wahnsinnig viel verändert. Der Bedarf an gut ausgebildeten Frauen wurde rasch größer. Auch deshalb sind immer mehr aufs Gymnasium gegangen.

 

Sie waren die erste Frau im Direktorat eines staatlichen Gymnasiums in Ingolstadt. Wie haben die Herren darauf reagiert?

Seifert: Ich hatte da überhaupt keine Schwierigkeiten. Gut, eines kann ich vielleicht erzählen: Es waren damals vier Gymnasien in Ingolstadt, und es gab immer eine Konferenz, bei der Vertreter aller vier zusammenkamen. Ich war am Anfang noch Studienrätin, aber schon stellvertretende Direktorin. Da sagte einmal ein Kollege rechts von mir ganz süffisant: „Ja aber Frau Kollegin, wie gibt’s denn das? Sie sind doch nur eine Studienrätin – und jetzt vertreten Sie hier Ihr Gymnasium . . .“

 

Was haben Sie geantwortet?

Seifert: Ich habe nur gegrinst. Ja, das war schon ein bisschen komisch. Aber sonst bin ich mit allen Kolleginnen und Kollegen immer bestens ausgekommen. Ich war am Katharinen-Gymnasium bis zur letzten Sekunde eine begeisterte Lehrerin!

Wie ist an unserer Schule der sozialwissenschaftliche Zweig entstanden?

Seifert: Ich bekam aus heiterem Himmel den Auftrag des Ministeriums, am Katharinen ein sozialwissenschaftliches Gymnasium entstehen zu lassen. Da war nur der Name – mehr nicht. Keine Vorgabe. Da habe ich halt gemacht, was ich für richtig hielt. Durch meinen Lebenslauf hatte ich so viele Berufe kennengelernt und war in so viele ganz unterschiedliche soziale Schichten eingebunden, in denen ich zurechtkommen musste. Deshalb fand ich, dass die Mädchen auch etwas vom Leben außerhalb der Schule mitbekommen sollen, denn die Schule ist nicht alles. Darum habe ich es eingeführt, dass die Mädchen einen Schwesternhelferinnenkurs machen. Sie wurden 14 Tage theoretisch ausgebildet, dann haben sie 14 Tage in Krankenhäusern gearbeitet. Ich habe sie alle besucht und kann sagen: Die Mädchen waren nach diesen zwei Wochen im Krankenhaus viel überlegter und reifer. Es wurde auch Kochen eingeführt, Handarbeit und Hauswirtschaft. Ich habe da sagenhaftes Engagement erlebt! Diese Fächer gibt es heute nicht mehr. Aber jetzt habe ich mal eine Frage: Welche Praktika machen Sie heute?

Beatrice: In der Neunten haben wir eine Woche Orientierungspraktikum. Da können wir uns in irgendeinem Bereich engagieren, auch in einer Firma.

 

Seifert: Ist es heute noch möglich, Einblicke in verschiedene Berufe zu bekommen?

Ann-Katrin: Bis zum Ende der zehnten Jahrgangsstufe müssen wir unsere zehn Tage soziales Praktikum ableisten, da gehen wir dann in Krankenhäuser, Kindergärten, Krippen, Altenheime und Ähnliches.

Seifert: Das ist gut! Gibt es danach auch Gesprächsrunden, in denen Sie über Ihre Erfahrungen in den Berufen berichten?

Lena: Wir mussten einen Bericht schreiben und haben uns in der Klasse gegenseitig unsere Erfahrungen geschildert.

 

Frau Seifert, wie beurteilen Sie die weitere Entwicklung des sozialwissenschaftlichen Zweiges? Denn er hat sich sehr verändert.

Seifert: Gott sei Dank hat sich der Zweig verändert! Denn auch die Zeiten haben sich wahnsinnig verändert. Da kann der sozialwissenschaftliche Zweig ja nicht zurückbleiben! Er muss angepasst werden, und ich bin froh, dass das gemacht wird.