Ingolstadt
Schüler schreiben Geschichte

Auszeichnung für "Junge Historiker": Jugendliche präsentieren Interessantes - Auch Grundschule prämiert

14.07.2020 | Stand 23.09.2023, 12:54 Uhr
Die ausgezeichneten "Jungen Historiker" mit Bürgermeisterin Dorothea Deneke-Stoll (r.) und Matthias Schickel (l.), dem Vorsitzenden des Historischen Vereins, im Hof des Neuen Schlosses. Die Lehrerin Gabriele Hirte (4.v.r.) nahm einen Sonderpreis für die Klasse 4a der Christoph-Kolumbus-Grundschule entgegen. −Foto: Silvester

Ingolstadt - Dorothea Deneke-Stolls Auftritt kommt gleich nach dem Defiliermarsch.

 

Die CSU-Bürgermeisterin schreitet noch nicht im Takt der "heimlichen bayerischen Hymne", wie sie genannt wird, nach vorn; das wird aber wohl auch bald so weit sein. Eben ist ein mit viel Beifall bedachter Kurzfilm auf dem großen Bildschirm im Hof des Neuen Schlosses zu Ende gegangen. Die Kinder der Klasse 4a der Christoph-Kolumbus-Grundschule im Piusviertel haben zusammen mit ihrer Lehrerin Gabriele Hirte der Vita Adolf Scherzers nachgespürt. Der Musiker im Dienste der bayerischen Armee komponierte Mitte des 19. Jahrhunderts den Defiliermarsch: in Ingolstadt.

Die Viertklässler folgten ihm mit der iPad-Kamera durch die Geschichte, über Ingolstädter Straßen mit Komponistennamen bis ins Stadtarchiv, wo eine Partitur des legendären Musikstücks liegt. Im Finale des Films ertönt er natürlich, der berühmteste Marsch der Bayern.

"Das war mein erster Defiliermarsch, eine tolle Einleitung! ", stellt die neue zweite Bürgermeisterin fest, als sie am Rednerpult steht. Dorothea Deneke-Stoll würdigt die Leistungen geschichtsinteressierter Ingolstädter Schülerinnen und Schüler, die am Wettbewerb "Junge Historiker" teilgenommen haben. Der Historische Verein Ingolstadt lobt ihn seit 2017 aus. Die Jury begutachtete Seminararbeiten aus der gymnasialen Oberstufe sowie Projektarbeiten in der neunten Jahrgangsstufe der Realschule und kürte - nach hartem mit sich Ringen wegen des hohen Niveaus der Beiträge, wie der Historiker und Juror Tobias Schönauer berichtet, - vier Sieger.

Platz 1 geht an die Fronhofer-Realschule für ihre aufwendige Dokumentation "Auf den Spuren des Zweiten Weltkriegs in Ingolstadt. " Den zweiten Platz belegt Anna Schwarz, Abiturientin vom Katharinen-Gymnasium. Sie hat - auf die Idee muss man erst mal kommen - die Geschichte des benachbarten Reuchlin-Gymnasiums in den Jahren 1968 bis 1970 erforscht, als sich alte Nazis im Kollegium und junge Rebellen in der Schülerschaft heftige Auseinandersetzungen lieferten. Auf Platz drei: Das P-Seminar "Latein und römische Geschichte in der Umgebung" vom Reuchlin-Gymnasium.

Die Filmgruppe der Kolumbus-Schule bekommt einen mit 250 Euro dotierten Sonderpreis, den Gabriele Hirte erfreut entgegennimmt. Alle weiteren Schülerinnen und Schüler, die ihre historischen Arbeiten im Schlosshof präsentieren, erhalten Buchpreise.

Es sei wichtig, "dass sich junge Leute mit der Geschichte ihrer Heimatstadt auseinandersetzen", sagt Deneke-Stoll. Das schaffe Identität. Matthias Schickel, Vorsitzender des Historischen Vereins, Geschichtslehrer, stellvertretender Stadtheimatpfleger und CSU-Stadtrat, regt an, in der gegenwärtigen Krise "erst recht darüber nachzudenken, wie es früher war". Man wolle "den Stab an junge Historiker weitergeben". Die vom Verein prämierten Schüler nehmen sich der Geschichte an "und machen ihr dabei alle Ehre". Die Beiträge belegen es.

Schüler gedenken der TotenMindestens 649 Menschen sind bei den Luftangriffen der Briten und Amerikaner 1945 auf Ingolstadt ums Leben gekommen. Zahlreiche Bürger wurden von Nationalsozialisten ermordet. Pauline Rieger, Nica Schalk, Johanna Weigler und Felix Hof-stetter aus der 9a der Fronhofer-Realschule wollen mit ihrer Arbeit an alle Toten erinnern: "Wir engagieren uns gegen das Vergessen der Opfer und wollen dazu beitragen, dass so etwas nie wieder vorkommt", bekunden sie in ihrer Präsentation.

Die Neuntklässler sind den furchtbaren Spuren des Krieges in Ingolstadt gefolgt. Der Geschichtslehrer Max Schuster unterstützte das Team. Sie dokumentierten die sichtbaren Wunden, die der Bombenkrieg hinterlassen hat, sowie vieles, das für immer verloren gegangen ist. Die Schüler bieten eine Übersicht über Gedenktafeln, Kriegsgräberstätten und Denkmäler in Ingolstadt. In all dem Grauen sind die Jugendlichen auch auf eine ermutigende Geschichte gestoßen: den Wiederaufbau der zerstörten Antonkirche dank eines unglaublichen Gemeinschaftswerks der Pfarrgemeinde schon im Jahr 1947.

Platz 1 und großes Lob für das Fronhofer-Geschichtsteam.

Revolutionäres ReuchlinDas gutbürgerliche Ingolstadt konnte aufatmen: "Reuchlin-Revolte ohne Erfolg", meldete der DK am 7. Dezember 1968. Die jungen Leute an der ältesten Oberschule der Stadt hatten - horribile dictu! (schrecklich zu sagen, wie Reuchlianer sich einst auszudrücken pflegten) - Unerhörtes gefordert: "Schüler wollten Lehrer wählen. " Das sei aber verhindert worden. Konsequenz: "36 Klassensprecher demonstrativ zurückgetreten. "

 

Was bitte war da los? Rebellion ausgerechnet im Reuchlin- Gymnasium! Jene humanistische Bildungsstätte, deren intellektuelle Selbstgewissheit früher in indirekt proportionalem Verhältnis zur Schülerzahl stand. Nicht zuletzt deswegen, weil sie viele Kinder abschreckte (die lieber an ein modernes Gymnasium wollten), denn im Reuchlin herrschte bis in die 1970-Jahre ein verknöchert-autoritärer, extrem gestriger Geist. Einst bekennende Nationalsozialisten und Kriegsteilnehmer im Lehrerkollegium schwadronierten im Unterricht unbefangen über die Feldzüge des Führers. Einspruch aus Schülermund wurde sofort bestraft.

In diesem Zwielicht, das die gesamte frühe Bundesrepublik prägte, wird deutlich, warum in der Zeit der Studentenbewegung sogar am Reuchlin, jenem vermeintlichen Braverl-Gymnasium, derart viele junge Leute Aufruhr wagten.

Bundesweite Studentenproteste gegen den bleiernen Geist der Adenauer-Zeit und die vom ersten Bundeskanzler forcierte Bewaffnung der Bundesrepublik hatten in den 1950er-Jahren eingesetzt. 1962 gewann die Bewegung mit der "Spiegel-Krise" mächtig an Schub. Ende der 60er ging es richtig zur Sache. Anna Schwarz, die heuer am Katherl Abitur gemacht hat, erforschte die Revolutionsgeschichte des Reuchlins. Sie traf sich mit Zeitzeugen, etwa dem Musiker Carl-Ludwig Reichert, Ende der 1960er ein Protagonist der Ingolstädter Protestbewegung, studierte Flugblätter, Artikel sowie die freche Reuchlin-Schülerzeitung "diogenes 69", die rigoros zensiert wurde.

Die Schülerin rekonstruierte auch eine Begebenheit aus dem Jahr 1968, die Bezeichnendes über die hitzige politische Stimmung jener Zeit aussagt: Hardt-Waltherr Hämer, der Architekt des Ingolstädter Stadttheaters, hatte an einer kritischen Diskussion in dem von ihm erbauten Haus teilgenommen, die Reichert nach dem Attentat auf Rudi Dutschke einberufen hatte. Das Treffen gipfelte in einem spontanen Fackelzug durch die Stadt, mitsamt dem Ruf "Springer, Mörder! " CSU und UW forderten erbost, Hämer einen Großauftrag zu entziehen, den ihm der Stadtrat kurz zuvor erteilt hatte: den Bau des Katharinen-Gymnasiums. So weit kam es jedoch nicht - auch dank des versöhnenden Einsatzes des CSU-Stadtrats und Landtagsabgeordneten Peter Schnell.

Zentrale Erkenntnisse von Anna Schwarz lauten: "Parallel zur Studentenbewegung ging es auch den Reuchlin-Schülern um mehr Mitbestimmung. Der Politisierungsprozess erfasste auch Ingolstadt - obwohl es keine Studentenstadt war. "

Das Reuchlin als Brutstätte der Revolution: "Wer hätte das gedacht? ", resümiert Reuchlin-Absolvent Schickel sichtlich beeindruckten Blicks.

Mit Latein durch IngolstadtDie weitaus bekanntere Domäne des Reuchlins ist das Lateinische. Das P-Seminar "Latein und römische Geschichte in der Umgebung" erreicht mit einer originellen wie lehrreichen App Platz drei. Emily Pawlitschek, Laura Ilic und Anna Repper stellen ihr Werk vor, mit im Team waren außerdem Marie Reiter und Anna-Marie Schwarz; der Lehrer Alois Mayer unterstützte sie. Das Szenario: Der Reuchlianer Timmy landet nach einem Unfall im Ingolstadt des Jahres 1895. Um in seine Zeit zurückkehren zu können, benötigt er eine Zauberformel. Dafür muss er lateinische Rätsel lösen - und stellt erstaunt fest, wie oft ihm diese Sprache auf seiner Odyssee durch Ingolstadt begegnet. "Timmy entdeckt, dass er Latein immer brauchen kann", erzählen die Schüler. "Die App verbindet Latein hervorragend mit unserer Gesellschaft", lobt Juror Tobias Schönauer.

Festungsbau und ZivilschutzMaxime Dauphin vom Gnadenthal-Gymnasium dürfte unter den versierten Kennern der Ingolstädter Festungsgeschichte der jüngste sein. Eloquent und kompakt schildert er die Entwicklung von der ersten Stadtbefestigung des 13. Jahrhunderts über die barocke sowie die klassizistische Festung und den Beginn des Zivilschutzes im Zweiten Weltkrieg bis zum heutigen Katastrophenschutz.

Und jetzt zum SportTheresa Oblinger vom Gnadenthal-Gymnasium, eine sehr erfolgreiche Schützin, hat die große Bedeutung von Sportstätten und Sportvereinen für das gesellschaftliche Leben herausgearbeitet. Sport diene nicht nur der Gesundheit, sondern - als Gemeinschaftserlebnis - auch der sozialen Integration. Sport fördere Werte wie Fairness oder Kameradschaft und Fähigkeiten wie Disziplin oder Konzentrationsfähigkeit. Wer Theresa Oblingers Arbeit studiert, wird feststellen, was für eine beachtliche Sportinfrastruktur in Ingolstadt zur Verfügung steht.

Damals im Kalten KriegDieses Kapitel der Geschichte ist nicht sehr alt, wirkt aber ganz weit weg: die strategische Rolle Ingolstadts im Kalten Krieg. Der Standort wäre mit dem Stützpunkt Hepberg/Wettstetten ein Zentrum der Luftverteidigung gegen Flugzeuge und Raketen des Warschauer Pakts gewesen. Mit allen Risiken. Deshalb wurde die starke Präsenz der Luftwaffe rund um die Stadt "von Misstrauen in der Bevölkerung begleitet". Einige Relikte verlassener Stellungen erkennt man bis heute, wenn man weiß, worauf man achten muss. Leonhard Schiml (Katharinen-Gymnasium) hat dieses fast vergessene Kapitel beklemmend-präzise rekonstruiert.

DK

 

Christian Silvester