Ingolstadt
Pure Magie

Großer Jubel für "Der Zinnsoldat und die Papiertänzerin" in der Ingolstädter Werkstatt

10.10.2021 | Stand 23.09.2023, 21:13 Uhr
70 Minuten Theaterglück: Steven Cloos und Paula Gendrisch sind "Der Zinnsoldat und die Papiertänzerin" in der Ingolstädter Werkstatt. −Foto: Olah

Ingolstadt - Ein Wunder muss her.

Sofort. Sonst landen der Zinnsoldat und die Papiertänzerin im Feuer. Und das, nachdem sie all die Abenteuer bestanden haben: Sie haben den Sieg über Springteufel und Kanalratten davongetragen, sind Wolkengrummeln und Hagelsturm entronnen, konnten kindlicher Niedertracht und nervenzermürbender Elsternbrut entfliehen - und schließlich sogar Wasserfluten trotzen. Und ausgerechnet im Moment der Rettung soll alles umsonst gewesen sein? NEIN! Kurzerhand bemächtigen sich Zinnsoldat und Papiertänzerin der Geschichte, fabulieren drauflos, ersinnen ein famose Finte, die schließlich zum Happy End führt.

Mit "Der Zinnsoldat und die Papiertänzerin" (ab 8 Jahren) hat Julia Mayr am Samstagnachmittag die Spielzeit des Jungen Theaters Ingolstadt eingeläutet. Zum ersten Mal seit März 2020 wurde in der Werkstatt wieder vor Publikum gespielt. Das Haus war voll. Und der Jubel wollte nach 70 Minuten gar kein Ende nehmen.

Was für ein zauberhaftes, poetisches, witziges, schaurig-schönes Spiel! Roland Schimmelpfennigs Stück setzt da ein, wo Hans Christian Andersens Märchen endet. Oder besser gesagt: kurz davor. Denn während im Märchen von beiden Protagonisten nichts bleibt als ein kleines Herz aus Zinn und der verkohlte Stern der Tänzerin, bewahrt sie Schimmelpfennig vor dem Feuer. Da stehen sie also zu Beginn. Ein wenig derangiert und rußig. Und überlegen, wie sie ihre Geschichte erzählen sollen. Kann man denn mit dem Ende beginnen? Also doch lieber mit dem Anfang! Nach und nach entfaltet sich die Handlung und das Publikum wird Zeuge, wie das ungeliebte Spielzeug - ein Zinnsoldat mit nur einem Bein! ein Papierpüppchen für einen Jungen? - verstoßen wird und sich dem Kampf mit aller Welten Unbill stellen muss. Während es den Zinnsoldaten in die Kanalisation verschlägt, wird die federleichte Tänzerin durch die Lüfte gewirbelt. Ohnmächtig trudeln sie durchs Ungewisse. Beide sind furchtbaren Gefahren ausgesetzt, beide finden Trost in gemeinsamen Erinnerungen - und ab und zu auch jemanden, der weiterhilft.

Wundersam sind beider Geschichten ineinander gewoben. Es geht nach oben und unten, zu Wolkendunst und Abwasserbrühe, ins Vogelnest und in den Fischbauch. Und Steven Cloos und Paula Gendrisch agieren nicht nur in den Titelrollen als menschgewordene Spielzeuge, sondern vervielfachen ihre Figuren. Fingerkleine Gestalten feiern im Schattenspiel dramatischen Einsatz. Marionetten durchschreiten melancholisch Traumgespinste. Darüber hinaus schlüpfen Steven Cloos und Paula Gendrisch auch in alle anderen Rollen der Geschichte, sind Wolke, Drache und Ratte, Fisch, Papierschiffchen und boshaftes Zwillingspaar, Köchin und Kind, Elster und Küken. Und wie sie spielen! Mit Leichtigkeit und Witz! Immer mit vollem Einsatz.

Julia Mayr hat erneut die Puppenbauerinnen und -spielerinnen Dorothee Metz und Vanessa Valk ins Boot geholt. Eine Vielzahl ihrer so hinreißenden wie raffinierten Geschöpfe kommt hier zum Einsatz: Die Zwillinge sind großmäulige Klappmaulköpfe, die auf den Knien der Akteure ihr garstiges Spiel treiben. Die Elster-Marionette ist ganz elegantes Schweben mit teuflisch roten Augen und riesigen Krallen. Ihr trubeliges Nest dagegen lässt sich keck als Fingerhandschuh spielen. Und die Ratte erstreckt sich als fies dreinblickende Sockenpuppe mit spitzer Schnauze und nacktem Schwanz über den ganzen Unterarm.

Julia Mayr schickt ihre Schauspieler auf einen wilden Ritt in eine bunte Theatermenagerie, wo ein Schlafsack zum Riesenfisch mutiert, eine Taschenlampe Raketenantrieb simuliert und Plastikfolie sich zum Cumulonimbus ballt. Es ist ein aufregender Mix der Spielarten: Schatten- und Puppenspiel, drastische Kasperliaden, Objekt- und Materialerkundung, Licht- und Klangkunst (Musik: Chris Neuburger). Und hinreißendes Schauspielertheater. Denn wie Paula Gendrisch und Steven Cloos sich mit überbordender Spiellust in die rasenden Wechsel zwischen Erzählebene und dramatischer Handlung stürzen, sich von Dietlind Konolds Bühne aus Papier und Überraschung zu immer neuen verblüffenden Einfällen anstacheln lassen, das Leichte und das Schwere ausloten, das zeugt von großer Virtuosität. Roland Schimmelpfennig greift in seinem Stück Themen auf wie Anderssein und Ausgrenzung, vor allem aber beschwört er die Kraft der Fantasie. In der Ingolstädter Inszenierung wird daraus pure Magie. Ein Theaterwunder!

DK

ZUR PRODUKTION

Theater:

Junges Theater Ingolstadt

Regie:

Julia Mayr

Bühne:

Dietlind Konold

Nächste Vorstellung:

13. November

Kartentelefon:

(0841) 30547200

Anja Witzke