Ingolstadt
Prozessauftakt ohne das Opfer

Bluttat als versuchter Totschlag angeklagt ? Hauptbelastungszeuge angeblich im Iran

20.04.2020 | Stand 02.12.2020, 11:31 Uhr
Symbolbild Landgericht Ingolstadt −Foto: Armin Weigel (dpa)

Ingolstadt - Ein blutiger Gewaltakt, der sich im vergangenen September in einer Pension an der Hindenburgstraße abgespielt hat, beschäftigt seit gestern das Landgericht.

Ein 28-jähriger Ingolstädter mit türkischer Staatsangehörigkeit ist wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung angeklagt. Er soll in der Unterkunft einen Mitbewohner aus Afghanistan mit einem Messer lebensgefährlich verletzt haben, schildert seine Tat jedoch als Notwehrhandlung.

Es war ein Prozessauftakt mit Hindernissen: Morgens gab es erst einmal zwei Stunden Verzögerung, weil eine Münchner Gerichtsmedizinerin als Gutachterin ausfiel und eine Vertretung organisiert werden musste, nachmittags musste die 1. Strafkammer dann feststellen, dass ihr der Hauptbelastungszeuge abhanden gekommen ist: Das mutmaßliche Opfer blieb der Verhandlung unentschuldigt fern.

Der 45-jährige Afghane hält sich nach den ersten Recherchen des Gerichts bereits seit sechs Wochen im Iran auf. Der Mann ist abgelehnter Asylbewerber und war in der Bundesrepublik lediglich geduldet. Ob er, sollte er inzwischen wirklich in Persien weilen, von dort jemals nach Deutschland zurückkehren wird, ist nicht nur wegen der in Corona-Zeiten bestehenden Reisebeschränkungen sehr zweifelhaft.

Das Schwurgericht unter Vorsitz von Landgerichtsvizepräsident Konrad Kliegl muss sich im weiteren Verhandlungsverlauf deshalb wohl maßgeblich auf die Protokolle der polizeilichen Vernehmung des Geschädigten und auf Zeugen aus dem Umfeld der beiden Männer verlassen, die aber auch nicht bei der Tat zugegen waren. In den Ermittlungsakten nimmt sich der Vorfall vom 7. September den bisherigen Ermittlungen zufolge so aus: Mutmaßlicher Täter und Opfer hatten im vorigen Sommer etwa drei Monate in derselben Pension gewohnt, davon gut zwei Monate im selben Zimmer. Später war der jetzige Angeklagte, weil ihm sein Arbeitsplatz in einem Supermarkt gekündigt worden war, für einige Tage bis zum bereits geplanten Auszug in eine Dachkammer gezogen. Dennoch hatten die beiden Männer an jenem Abend im Zimmer des Afghanen nochmals zusammen gegessen.

Der Türke, ein gelernter Elektriker, der aber wohl schon länger nicht mehr in diesem Beruf tätig ist, soll dann gegen 21.30 Uhr recht unvermittelt seinen Mitbewohner von hinten mit einem zuvor bei der Brotzeit benutzten Küchenmesser angegriffen und ihm mehrere Stiche und Schnitte im Gesicht und am Hals zugefügt haben. Schlimmste Verletzung war die Durchtrennung einer Halsvene; das Opfer verlor eine Menge Blut, konnte aber offenbar noch selber den Rettungsdienst verständigen.

Das war wohl auch sein Glück, denn der mutmaßliche Täter soll den Schwerverletzten ohne jede Anteilnahme zurückgelassen und vielmehr in seiner Kammer seine Habe zusammengesucht haben. Beim Versuch, das Gebäude zu verlassen, wurde er aber von der inzwischen eingetroffenen Polizei gestellt.

Auf der Anklagebank schilderte der 28-Jährige gestern eine ganz eigene Version des Tatablaufs. Er habe bei dem Afghanen schon mehrfach zuvor plötzliche Ausraster erleben müssen und von dem nach dessen eigener Darstellung von Gewalt geprägten früheren Familienleben des Mannes gewusst. Auch nach dem bewussten Abendessen sei der Mitbewohner wieder aufbrausend gewesen, habe ihn sogar zu Boden gezwungen und dann mehrfach geschlagen. Da habe er nach dem Messer gegriffen und in Notwehr mehrfach zugestochen.

Inwiefern Alkohol und vor allem Drogen, die der Angeklagte nach eigenen Angaben seit Jahren regelmäßig konsumiert hat, die Wahrnehmung des Mannes an jenem Abend getrübt haben könnten, wird im Prozess noch durch Gutachter zu klären sein. Das Verfahren soll am Donnerstag fortgesetzt werden.

DK