Ingolstadt
"Nie dem Täter den Rücken zudrehen"

Der Ingolstädter Ex-Polizist Thomas Herzing schult Unternehmen nach Raubüberfällen - ein Interview

12.03.2019 | Stand 02.12.2020, 14:27 Uhr
  −Foto: Getty Images, privat

Ingolstadt (DK) Die jüngste Serie von Raubüberfällen auf Tankstellen und Läden hat nicht nur die Mitarbeiter verunsichert.

Der Sicherheitsexperte Thomas Herzing, ein gebürtiger Ingolstädter, sagt, er sei sehr enttäuscht, wenn er von Unternehmen höre, sie würden ihre Mitarbeiter für solche Fälle sensibilisieren - "und im Prinzip machen sie nichts". Im Interview erzählt Herzing aus dem Schulungsalltag und wie man sich richtig verhält, wenn man überfallen werden sollte.

Herr Herzing, in Zeiten von bargeldlosem Zahlungsverkehr sollte man annehmen, dass die Zeit der Überfälle auf Banken, Geschäfte und Tankstellen vorüber ist. Tatsächlich hat man gerade das Gefühl, diese Verbrechen erlebe eine Renaissance.
Thomas Herzing: Die Täter behelfen sich oft mit einem spontanen Griff in die Kasse, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, sehr häufig im Bereich der Beschaffungskriminalität. Rauschgiftsüchtige sind schon sehr zufrieden mit ein paar Hundert Euro, das wird es immer geben. Was die Täter sich oft auch nicht bewusst machen: In der Regel handelt es sich um räuberische Erpressung. Heißt: Ich drohe Gewalt an, um jemand zu einem Verhalten zu nötigen, in dem Fall zur Herausgabe des Geldes. Das ist dann schon ein Strafmaß von mindestens einem Jahr Gefängnis.

Ist eine Waffe dabei, sind es sogar fünf Jahre. Und nach solchen Vorfällen kommen die betroffenen Unternehmen auf Sie zu?

Herzing: Häufig ist es so, dass erst das Kind in den Brunnen fallen muss und dann festgestellt wird, dass man ein großes Defizit hat. Wir hören immer wieder, wenn wir unsere Dienstleistungen anbieten: "Haben wir ja noch nie gehabt. " Dabei hat das auch was mit Fürsorge zu tun.



Was meinen Sie damit?


Herzing: Was ich auch bei der Polizei ganz häufig nach Raubüberfällen erlebt habe: Die Täterbeschreibung wird abgegeben - wie hat er ausgeschaut, was hat er angehabt, wo ist er hingeflohen - und danach hängen die Betroffenen rum wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Ich habe es kein einziges Mal erlebt, dass von Unternehmensseite ein Prozess angestoßen wurde, diese Menschen zu betreuen. Oft ist nicht einmal ein Plan vorhanden: Rufen wir den Betroffenen an oder ist das pietätlos? Wer hat denn überhaupt eine Handynummer? Die Leute werden einfach alleingelassen. Wirklich schade, weil man vorher durch Training eine gewisse Handlungssicherheit erlangen kann, weil wir die Taten im geschützten Rahmen durchspielen.



Was raten Sie denn Unternehmen oder Mitarbeitern für den Fall, dass sie überfallen werden?


Herzing: Es gibt drei Verhaltensmuster: Angriff, Flucht und Erstarrung. Was glauben Sie denn, was spontan am meisten ausgelebt wird?

Ich sage: erstarren.

Herzing: Ganz anders. Es ist erstaunlich: Lieschen Müller, 55 Jahre, an der Kasse, greift den Täter ohne Sinn und Verstand an oder versucht, die Waffe zu entreißen. Und das ist natürlich eine ganz heiße Kiste, weil das dann auch, vom Täter nicht gewollt, zu einer weiteren Aggressionsspirale führt, damit der an seine Beute gelangt. Wir sprechen von Täterfantasien: Ich gehe in die Tankstelle, mache die Kasse auf und nehme das Geld. Alles, was davon abweicht, ist totaler Stress, der auf den Täter einprasselt. Das führt dann ganz häufig zu einer Überreaktion.

Wie sollte sich der Mitarbeiter denn verhalten?

Herzing: Zum Beispiel nie dem Täter den Rücken zudrehen, immer den Blickkontakt halten. Wenn ich dem Täter den Rücken zudrehe, sieht der nicht meine Angst im Gesicht und es ist für ihn um ein Vielfaches leichter, Gewalt anzuwenden. Auch solche Sprüche von den Überfallenen habe ich immer wieder gehört: "Ja, Bursch, du kannst bald gemeinschaftlich duschen und dich nach der Seife bücken" oder "Dein Gesicht hab ich mir gemerkt". Da herrscht schon eine extreme Wahrnehmungsverzerrung.



Wie sieht es mit Waffen zur Selbstverteidigung aus?


Herzing: In aller Regel raten wir davon ab. Sehr oft werden die Leute, die so was mitführen, Opfer ihrer eigenen Gegenstände. Die haben irgendwann Pfefferspray für fünf Euro gekauft, wissen nicht, dass man eine Schutzkappe eindrücken muss, ob ein Strahl rauskommt und wohin sie dann zielen sollen.

Und das alles schulen Sie lieber von der Schweiz aus als in Deutschland?

Herzing: Ich habe das Gefühl, Deutschland ist da eine ziemliche Wüste. In der Schweiz gibt es auch sehr viele Gemeinden, die für ihre Mitarbeiter Schulungen von sich aus initiieren. Etwa in der regionalen Arbeitsvermittlung, da kommt es immer wieder zu Übergrifflichkeiten. Das findet in Ingolstadt auch statt. Nur wenn ich mich da mit leitenden Mitarbeitern informell austausche, dann höre ich: "Wir hätten schon das Bedürfnis, du glaubst ja gar nicht, was wir hier erleben. " Aber das ist mit Geld und mit Aufwand verbunden, das ist offenbar nicht gewollt. Nach einem Vorfall waren wir in einer Filiale eines großen Unternehmens der Region. Da sagt zu mir der Geschäftsführer: "Herr Herzing, mal ehrlich, das bringt doch eh nichts, man verhält sich doch in so einer Situation so, wie man sich auch sonst verhält. " Da sage ich: "Wenn ich Sie jetzt angreife, wie verhalten Sie sich, worauf greifen Sie zurück? Auf die Erfahrung der Zeit vor 30, 40 Jahren, als Sie mit Ihrem Bruder oder Ihrer Schwester gerauft haben? " Unisono kann man sagen: Wenn die Geschäftsleitung nicht dahinter steht, ist es zum Scheitern verurteilt.

Das Gespräch führte

Thorsten Stark.



ZUR PERSON
Thomas Herzing, 52 Jahre alt und gebürtiger Ingolstädter, war bei der bayerischen Polizei und hat dort das bayerische Amok-Konzept mitentwickelt. Später verschlug es ihn zur Schweizer Polizei, 2014 machte er sich dort selbstständig und bietet seitdem Schulungen und Workshops unter anderem zum Umgang mit Gefahrensituationen an.