Ingolstadt
Nachbarschaftsstreit als Ventil für die eigenen Probleme

Im Prozess um die Pfaffenhofener Messerattacke ist der psychiatrische Gutachter gehört worden - Urteil nächste Woche

13.12.2018 | Stand 23.09.2023, 5:23 Uhr

Ingolstadt/Pfaffenhofen (DK) Für den Messerstecher von Pfaffenhofen kommt nach Auffassung des psychiatrischen Gutachters weder eine eingeschränkte Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt noch eine strafrechtlich relevante psychische oder geistige Abnormität als klarer Strafmilderungsgrund bzw. als Bedingung für einen sogenannten Maßregelvollzug in Betracht. Sollte das Schwurgericht dieser Einschätzung folgen, muss der wegen zweifachen Totschlagsversuchs angeklagte Mann mit einer höheren Gefängnisstrafe rechnen.

Die 1. Strafkammer des Ingolstädter Landgerichts hat sich am Donnerstag rund drei Stunden Zeit zur Anhörung des Sachverständigen und für die Erörterung seines Gutachtens genommen. Anschließend wurde die Beweisaufnahme geschlossen, ohne dass von den Verfahrensbeteiligten noch weitere Anträge gestellt worden wären. Am Donnerstag nächster Woche soll nun plädiert und womöglich auch das Urteil gesprochen werden. Für den Fall, dass die Urteilsfindung wesentlich länger benötigen sollte als derzeit zu erwarten, hat die Kammer vorsorglich noch den nächsten Freitag als Verhandlungstag angesetzt.

Somit dürfte in spätestens einer Woche der zumindest vorläufige Schlussstrich unter einen Fall gezogen werden, der in Pfaffenhofen, aber auch darüber hinaus viel öffentliche Beachtung gefunden hat. Der blutig ausgeartete Nachbarschaftsstreit in einem Mietshaus am zweiten Weihnachtstag vorigen Jahres hat viele Menschen tief betroffen gemacht, zumal beide Opfer - ein heute 42-jähriger Familienvater und sein jetzt 18-jähriger Sohn - offenbar nur knapp mit dem Leben davon gekommen sind.

Wie aber kommt ein Mensch dazu, bei aller möglichen Verärgerung über denkbare Ruhestörungen durch eine Nachbarsfamilie derart maßlos und gefährlich zu reagieren? Diese Frage treibt die Opfer seit bald einem Jahr um, und auch die Öffentlichkeit rätselt über die Hintergründe dieses folgenschweren Kontrollverlustes.

Der Psychiater Friedrich Mohr vom Isar-Amper-Klinikum München-Ost in Haar hat den inzwischen 56-jährigen Angeklagten im vorigen Sommer untersucht. Er hat den Mann zudem von einem Kollegen aus der Fachklinik einem ausgiebigen Psychotest unterziehen lassen. Ergebnis dieser zusätzlichen Untersuchung: Der zuletzt arbeitslose Berufskraftfahrer mit einem Intelligenzquotienten "im unteren bis mittleren Durchschnitt" sieht sich selber als unauffälligen Typen mit eher geringem Aggressionspotenzial. Er hat aber nach Auffassung des Psychologen eine "starke Neigung, Schuldvorwürfe heftig abzuwehren". Das Selbstbild des Angeklagten, so hieß es, sei womöglich ein unbewusster Schutzreflex, um sich über einen Frustrations- und Aggressionsstau hinwegzutäuschen.

Das psychiatrische Gutachten von Oberarzt Friedrich Mohr leuchtet die Persönlichkeit des Angeklagten sehr vielschichtig aus, ohne an irgendeiner Stelle zu einem wirklich springenden Punkt zu kommen, anhand dessen sich eindeutig eine krankhafte hirnorganische oder psychische Veränderung nachweisen ließe. In der Gesamtschau führe keine Spur zu einer klaren Diagnose. Der Gutachter: "Ein buntes Bild, das eigentlich nirgendwo rein passt."

Sehr ausführlich ging der Sachverständige auf den Lebenslauf des Messerstechers ein. In der Tatsache, dass der Angeklagte bereits als Kind den Kontakt zum Vater verloren und in der offenbar alkoholabhängigen Mutter keine große Stütze gehabt hatte, bei Problemen vielmehr stets auf den untersten Weg verwiesen worden war, liegt für den Gutachter die Basis für später, im Erwachsenenalter, häufig ohne Gegenwehr hingenommene Zurücksetzungen und Kränkungen.

In der Summe habe sich bei dem Mann ein Ohnmachtsgefühl eingestellt, das das Entstehen feindseliger Gedanken gegenüber seiner Umgebung befördert habe. Später hätten familiäre Probleme in erster wie auch in zweiter Ehe, letztlich dann auch Krankheit und längere Arbeitslosigkeit die innere Zerrissenheit noch verstärkt. Den langen Streit mit der Nachbarsfamilie hatte der Mann demnach wie ein Ventil für seine eigentlichen Probleme genutzt - mit letztlich fatalen Folgen.

Als Anzeichen einer drohenden Eskalation des Nachbarschaftsstreits wertet der Gutachter im Nachhinein auch den Umstand, dass der Kraftfahrer im Sommer 2017 im Internet nach Möglichkeiten einer illegalen Schusswaffenbeschaffung geforscht hatte. Die Polizei hatte das im Zuge ihrer Ermittlungen herausgefunden. Der Angeklagte hatte hierzu eine etwas krude Erklärung geliefert, die ihm der Gutachter nicht abnimmt: Egal, wie zielstrebig oder auch nicht diese Waffensuche gewesen sei - sie belege, dass sich die Gedanken des Mannes zunehmend verfinstert hätten.

Bernd Heimerl