Ingolstadt
Memorial Day

Gäste aus den USA: Nachkommen ermordeter und vertriebener jüdischer Ingolstädter im Reuchlin

20.03.2019 | Stand 23.09.2023, 6:18 Uhr
Außergewöhnliche Geschichtsstunde im Reuchlin-Gymnasium: Wendy Neuburger Torres (vorn) und ihr Sohn Andrew kamen gestern zu Besuch. Von links: Die Lehrer Markus Schirmer (Reuchlin) und Matthias Schickel (Katharinen) mit Reuchlin-Direktorin Edith Philipp-Rasch. −Foto: Silvester

Ingolstadt (DK) Wendy Neuburger Torres und ihr Sohn Andrew leben in der Nähe von New York. Sie besitzen neben der US-amerikanischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft, doch sie haben das Land in Europa noch nie bereist. Bis zu dieser Woche. Gestern besuchten Wendy und Andrew das Reuchlin-Gymnasium, wo sie tief in die Geschichte ihrer deutschen Ahnen eintauchten. Wendys Urgroßeltern waren David und Hedwig Hubert. 1938 wurde das in Ingolstadt lebende Ehepaar jüdischen Glaubens von Nationalsozialisten in den Tod getrieben. Schüler des Reuchlin- und das Katharinen-Gymnasiums haben erschütternde Lebensgeschichten wie diese erforscht.

Die Schläger von der Terrortruppe SA sitzen im Gasthaus Schmalzbuckel an der Harderstraße und saufen sich in Mörderstimmung. Bald werden sie losziehen, um Jagd auf jüdische Ingolstädter Bürger zu machen. Es ist der 10. November 1938. Im ganzen Deutschen Reich plündern Anhänger Adolf Hitlers zu Zehntausenden die Synagogen, setzen sie in Brand, attackieren, berauben, vertreiben und ermorden Deutsche jüdischen Glaubens, ebenfalls vieltausendfach. Der brachiale Auftakt der öffentlichen Phase der systematischen Judenvernichtung wird später verharmlosend "Reichskristallnacht" genannt, heute spricht man von der Reichspogromnacht.

In Ingolstadt ziehen die SA-Männer zum Haus an der Griesmühlstraße 6. Hier lebt seit 1917 das Ehepaar David und Hedwig Hubert, 68 und 60 Jahre alt. Sie werden aufgefordert, die Stadt sofort zu verlassen. Die Huberts treten ihren letzten Weg durch die Stadt an, nehmen noch Abschied von ihrem Freund Leo Thaller, der an der Donaustraße 8 wohnt. Am nächsten Tag werden die Leichen von David und Hedwig Hubert aus der Donau geborgen. Sie bei Eining, er nahe Dünzing. Ob das Paar freiwillig in den Tod gegangen ist oder von den SA-Leuten ins Wasser gestoßen wurde, ist ungeklärt.

Das einzige Kind der Huberts, Antonie, genannt Tony (sie ist im Gnadenthal zur Schule gegangen), überlebte den Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten. Sie flieht noch 1938 mit ihrem Ehemann Hermann Neuburger in die USA. Ihr Sohn Alex ist damals sieben Jahre alt - und wächst wie ein Amerikaner auf. Doch die Erinnerung an diese schmerzvolle Zäsur in seinem jungen Leben habe ihn nie losgelassen, sagt seine Tochter Wendy Neuburger Torres, geboren 1960 in den USA. "Er war mit Deutschland immer unglücklich", antwortet sie in der Klasse von Markus Schirmer im Reuchlin-Gymnasium auf die Frage einer Schülerin. "It was hard for him." Eine harte Zeit für Alex. Er war ja erst sieben. Aber ihre Großeltern hätten immer von schönen Jugenderinnerungen in Deutschland erzählt. Das Unterrichtsgespräch findet auf Englisch statt. Doch das ist für die Schülerinnen und Schüler kein Problem. Sie sind bestens vorbereitet. Und referieren sehr sicher auf Englisch.

Die jungen Leute erleben eine ganz besondere Geschichtsstunde. Über Monate haben sie die Schicksale vertriebener und von den Nazis ermordeter Ingolstädter erforscht, deren Spuren verfolgt und Kontakt zu Verwandten in aller Welt gesucht. Das groß angelegte, von den Geschichtslehrern Markus Schirmer (Reuchlin) und Matthias Schickel (Katharinen) betreute Gemeinschaftsprojekt der zwei Gymnasien trägt den Titel "Pfad des Lebens". Im vergangenen Jahr haben sie ihre Forschungsergebnisse im Stadttheater ausgestellt. Der Besuch von Wendy und Andrew ist das nächste Highlight. Weitere Amerikaner mit Wurzeln in Ingolstadt werden bald folgen.

Mutter und Sohn sind diese Woche zum ersten Mal mit ihrem deutschen Pass (den sie als Deutschstämmige schon lange besitzen) auf Reisen gegangen. Wendy und Andrew freuen sich sehr über die Aufmerksamkeit, die ihnen in Ingolstadt zuteil wird. Das Schicksal von David und Hedwig war in der Familie immer präsent, erzählen die beiden. Sie hören berührt zu, als die Schüler tief in diese düstere Geschichte aus Deutschland vordringen. Auch, wenn der letzte Beweis fehle - die Huberts haben sich wohl nicht das Leben genommen, weil sie sehr gläubige Juden waren, berichten Sopio Avaliani und Michael Brandstätter. "Suicide was never an option for a jew." Die Nazis haben das Ehepaar vermutlich in die Donau gestoßen.

Lisa Schießer (Katherl-Schülerin) und Anna Hafenrichter (Katherl-Absolventin) erzählen von der Faszination, nach Spuren jüdischer Bürger zu suchen, die nach dem Pogrom 1938 so plötzlich verschwanden. "Was wurde aus ihnen?" Die jungen Leute werden weiterforschen.

It's Memorial Day im Reuchlin. Ein Tag des Erinnerns. Fröhlich. Ohne aufgesetzte Betroffenheit. Der Freundschaft gewidmet. Und dem Leben.

Christian Silvester