Ingolstadt
Machtbewusster Moderator

Christian Scharpf ist seit 100 Tagen Ingolstädter OB

07.08.2020 | Stand 23.09.2023, 13:25 Uhr
Christian Scharpf −Foto: Eberl

Ingolstadt - Nach fast 50 Jahren ist mit Christian Scharpf wieder ein SPD-Mann als Oberbürgermeister ins Ingolstädter Rathaus eingezogen. An diesem Samstag ist er seit 100 Tagen im Amt. Zeit für eine erste Bilanz.

 

Vier Tage vor der Stichwahl treffen sie beim DONAUKURIER ein letztes Mal aufeinander: Amtsinhaber Christian Lösel (CSU) und sein Herausforderer Christian Scharpf (SPD). Und schon da verblüfft Scharpf die DK-Redakteure im persönlichen Gespräch nach dem Interview. Wie er seine Chancen für die Stichwahl sehe, wird er gefragt. Er zuckt kurz mit den Schultern und sagt dann: "Ja, normalerweise dürfte nichts mehr schiefgehen."

Für Scharpf ist das simple Arithmetik: Er hat bei der OB-Wahl annähernd so viele Stimmen wie Lösel erhalten und weiß für die Stichwahl ein breites Bündnis der Opposition hinter sich. Scharpf sagt das, ohne arrogant zu wirken. Trotzdem weiß er: Wenn er die Wahl doch verlieren sollte, würde ihm dieser Satz sicher auf die Füße fallen. Er hätte ausweichend antworten können. Aber Scharpf sagt geradeheraus, was er denkt, und geht selbstbewusst seinen Weg.

Und er gewinnt tatsächlich, mit 59,3 Prozent der abgegebenen Stimmen. Zumindest für die Öffentlichkeit ist das eine Sensation. Ein SPD-Kandidat, der zwar aus Ingolstadt kommt, aber lange im Münchener Rathaus für die Stadtspitze gearbeitet hat und deswegen keinerlei Rolle in der Ingolstädter Politik gespielt hat, erreicht innerhalb eines Jahres einen so großen Bekanntheitsgrad, dass er den Amtsinhaber aus dem Amt kegelt.

Mitten in der Corona-Krise übernimmt Scharpf die Amtsgeschäfte, doch einen Bruch bemerkt man nicht - sicher auch, weil Christian Lösel seinen Nachfolger absolut professionell ins Amt einführt. Und Scharpf hat durch den Lockdown auch die Zeit, in seine Aufgaben hineinzufinden.

Und so werden die anstehenden Personalien auch weitgehend in Videokonferenzen verhandelt. Die Bürgermeisterposten für CSU und die Grünen setzt Scharpf intern wie extern gegen Widerstände durch - bei der späteren Wahl von Dorothea Deneke-Stoll und Petra Kleine zeigt sich, dass die da getroffene Übereinkunft auch Bestand hat. Selbst ein Parteigenosse bleibt vom vor der Wahl angekündigten Neuanfang im Stadtrat nicht verschont: Der langjährige Fraktionsvorsitzende Achim Werner, der Scharpf erst als Ingolstädter OB-Kandidat ins Spiel gebracht hatte, muss seinen Posten aufgeben.

Scharpf setzt auch letztlich eine andere Entscheidung durch: Er wolle, so teilt er es in einer Videokonferenz mehreren Stadträten mit, das Umwelt- und Gesundheitsreferat zugunsten eines Wirtschaftsreferates auflösen, wenn der Vertrag Rupert Ebners auslaufe, und die Aufgaben auf andere Ressorts verteilen. Noch am selben Abend wird diese Information an die Presse durchgestochen - die Schlagzeile "Umweltreferat wird aufgelöst" ist in der Welt. "Das war meine Schuld, dass das so entstanden ist", räumt Scharpf ein paar Wochen später ein. "Aber inhaltlich stehe ich immer noch voll dahinter."

Ebner ist jedenfalls blamiert, die Stadträte, die sich erst eine Meinung darüber bilden wollten, sind sauer, und die Grünen in der Krise. Denn erstens schwillt nun bei ihnen der Konflikt zwischen den Anhängern von Ebner und Kleine noch weiter an, zweitens können nur wenige verstehen, wie die Auflösung des Umweltreferates das Thema stärken soll - selbst wenn es künftig bei der grünen Bürgermeisterin angesiedelt wäre. Am Ende der Zerreißprobe einigen sich Fraktion und Basis aber auf Scharpfs Vorschlag, der auch im Stadtrat eine Mehrheit findet.

Trotz der Causa Ebner herrscht inzwischen im Stadtrat eine grundsätzlich andere Stimmung als vor der Wahl. Das bestätigen viele politische Beobachter, das erklären auch Stadträte. Das liege, so erzählen sie, an den neuen Mehrheitsverhältnissen, die immer wieder Kompromisse nötig machten, an einem in großen Teilen erneuerten Stadtrat, aber auch am neuen Oberbürgermeister. Scharpf sehe sich mehr als Moderator, Diskussionen versuche er auf der Sachebene auszutragen und gehe menschlich respektvoll mit den Stadträten um.

Verbissenheit ist sicher auch keine Eigenschaft, die man Scharpf zuordnen kann. "Wenn ich keine Mehrheit bekomme, dann ist das halt so", sagt er. Doch zweimal bricht er im Stadtrat aus seiner Moderatorenrolle aus: Als es um das Weiterverfolgen des Kammerspiele-Projekts geht, wirbt Scharpf in einer Grundsatzrede vehement für den Bau. Und in der Diskussion um weitere Stellen für die Verwaltung tritt er den Befürwortern eines geringeren Zuwachses mit ähnlicher Leidenschaft entgegen. Beide Entscheidungen fallen in seinem Sinne aus. "Die Richtung muss stimmen, dann lasse ich es laufen", sagt Scharpf über sein Verständnis von der Arbeit eines Oberbürgermeisters. "Sonst spreize ich mich ein."

So äußert sich der 49-jährige Vater von drei Kindern auch außerhalb des Stadtrates immer mal wieder deutlich - entweder mit einer politischen Botschaft oder einer scharfen Erwiderung auf Kritik. Das tut er dann auch jenseits der gewöhnlichen städtischen Kommunikationskanäle - über Facebook oder von seinem privaten E-Mail-Account aus, gerne nachts oder am Wochenende, sehr zur Verwunderung der Pressestelle, seiner vier Stabsstellen und der Medien. Da habe er Zeit, sagt Scharpf. Aber er versichert: "Ich haue nichts raus, das ist alles wohlüberlegt."

Mit den Bürgern sucht Scharpf, soweit derzeit möglich, das persönliche Gespräch. Nach der DK-Podiumsdiskussion zur Innenstadt setzt er sich etwa für einige Zeit noch mit jungen Besuchern zusammen und hört sich einfach an, was sie zu erzählen haben. Der Kontakt mit den Bürgern, der sei ihm in der Corona-Hochphase am meisten abgegangen, sagt Scharpf. Und es wirkt so, als meinte er das auch ernst.

DK

 

Thorsten Stark