Ingolstadt
Tag der Gutachter

Kettensägen-Prozess: Was halten Autoscheiben aus - und was nicht?

19.11.2018 | Stand 23.09.2023, 5:00 Uhr
Beratungsbedarf: Der wegen versuchten Totschlags angeklagte, inzwischen 21-jährige Kettensägen-Angreifer bespricht sich am ersten Prozesstag mit seinem Verteidiger Stefan Roeder. −Foto: Heimerl

Ingolstadt (DK) Der dubiose Kettensägen-Fall - und was sich aus technischer und gerichtsmedizinischer Sicht dazu sagen lässt: Der vierte Prozesstag um die denkwürdige Attacke auf einen Pizzaboten im Piusviertel (DK berichtete mehrfach) hat am Montag vor allem den Gutachtern gehört. Die Jugendkammer ließ sich dabei anhand von Videomaterial des Landeskriminalamtes (LKA) zeigen, wie eine Axt und eine Motorsäge auf Autoscheiben einwirken können.

Die beiden Angeklagten werden sich bei ihrer Aktion am späten Abend des 2. Januar kaum darüber im Klaren gewesen sein, welch großen Aufwand Ermittlungsbehörden und Justiz treiben würden, um das Gefährdungspotenzial der von den beiden jungen Männern in Grundzügen ja bereits eingestandenen Angriffe mit einem Beil und einer laufenden Motorsäge auf den Pkw des Pizzaboten einschätzen zu können. Am Landeskriminalamt wurde sogar eigens ein (bereits schrottreifer) baugleicher Wagen (VW "Fox") angeschafft, um an dessen Scheiben Hieb- und Sägeversuche zu unternehmen.

Die Kammer konnte anhand von Videoclips verfolgen, wie sich diese Experimente aus verschienenen Kameraperspektiven und sowohl in Echtzeit als auch in Zeitlupe ausgenommen haben. Ergebnis: Bei seinen maximal sechs kräftigen Hieben mit dem Beil auf die Windschutzscheibe des Autos hatte der heute 20-jährige Angreifer praktisch keine Chance, das Verbundglas derart zu durchschlagen, dass in der Folge auch ein zügiges problemloses weiteres Einschlagen auf den im Auto verbarrikadierten Pizzaboten möglich gewesen wäre.

Ein LKA-Beamter brauchte (mit demselben Beil) gut 20 Schläge, um ein auch nur etwa 20 Zentimeter durchmessendes Loch in die Scheibe zu hauen. Hier ist also zumindest technisch fraglich, ob der angeklagte Totschlagsversuch tatsächlich vorgelegen hat.

Anders verhält es sich offenbar mit dem Kettensägen-Angriff, den der zweite Angeklagte, ein heute 21-jähriger Russe, ja bereits grundsätzlich zugegeben hat. Beim LKA-Versuch zeigte sich, dass es gar nicht so leicht ist, eine (Fahrer-)Seitenscheibe eines Pkw allein durch das Schneiden der Sägekette zu demolieren. Vielmehr, so das Ergebnis, kommt es auf die Wucht des Zustoßens an, was natürlich auch ohne laufende Kette möglich ist. Am Tatabend soll die Säge nach Aussage des Opfers sehr wohl geheult haben, und die Scheibe soll beim zweiten Zustoßen geborsten sein. Hier muss also von einem vehementen Angriff ausgegangen werden, der wahrscheinlich auch erhebliches Verletzungsrisiko für den Fahrzeuginsassen mit sich gebracht hat.

Das verdeutlichte auch ein Biomechaniker des Instituts für Gerichtsmedizin an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. Der Sachverständige drückte aus, was sich auch jeder Laie beim Gedanken an eine ratternde Motorsäge, die in ein Auto gewuchtet wird, zusammenreimen kann: "Die Person, die die Säge führt, kann die Situation nicht voll kontrollieren." Durch Zappelei oder instinktive Abwehrbewegungen des Opfers habe jederzeit eine gefährliche, womöglich sogar lebensbedrohliche Verletzung verursacht werden können. Beim Hantieren mit der laufenden Säge im Fensterrahmen sei sogar das Verkeilen und dadurch ein äußerst gefährliches Reißen der Kette in Kauf genommen worden. Unter Umständen hätte dann sogar der Angreifer selber aufs Schwerste oder gar tödlich verletzt werden können.

Eine Gerichtsmedizinerin äußerte sich zu den wahrscheinlichen Alkoholwerten der beiden Angeklagten zum Tatzeitpunkt. Sie dürften sich beim Beil-Angreifer je nach Berechnungsgrundlage zwischen 1,04 und 1,83 Promille, beim Kettensägen-Mann etwa um die 1,6 Promille (auch hier mit einer gewissen Schwankungsbreite) bewegt haben. Aus rein gerichtsmedizinischer Sicht hält die Ärztin bei beiden jungen Männern - auch aufgrund des gesichteten Videomaterials aus einer von ihnen nach der Tat besuchten Tankstelle - eine verminderte Schuldfähigkeit nach Paragraf 21 StGB nicht für gegeben. Zu diesem Punkt dürfte sich beim Fortsetzungstermin an diesem Mittwoch aber der psychiatrische Gutachter noch eingehender äußern.
 

Bernd Heimerl