Ingolstadt
Die Angst vor dem großen Wurf

04.11.2010 | Stand 03.12.2020, 3:30 Uhr

Lieblingsplatz: Wäre es nach Gudrun Sticht-Schretzenmayr gegangen, würde sich hier über den Dallwigk irgendwann der Wolkenbügel spannen. Die frühere Fraktionschefin der CSU im Stadtrat schwärmt bis heute für den mutigen Braunfels-Entwurf – stattdem soll aber hier ein Donaumuseum entstehen, das allein die alte Bausubstanz nutzt. - Foto: Rössle

Ingolstadt (DK) "Ich hab ein wahnsinnig schlechtes Gedächtnis", behauptet Gudrun Sticht-Schretzenmayr (69), "besonders bei Sachen, über die ich mich geärgert habe." Wenn das tatsächlich stimmen würde, hätte die frühere CSU-Fraktionschefin die aus ihrer Sicht recht unerquicklichen Vorgänge aus den Jahren 2000 bis 2002 völlig aus ihrer Erinnerung gestrichen.

Hat sie aber nicht. Denn die Politikerin stimmte damals – gegen ihre tiefste Überzeugung – für einen Museumsentwurf, den sie allenfalls für die zweitbeste Lösung hielt. Damit war ihr Favorit, der bekannte "Wolkenbügel" von Stephan Braunfels, gescheitert. Und das blieb der ehemaligen Stadträtin durchaus im Gedächtnis haften.

Am 16. Mai 2000 tritt zum Abschluss eines Architektenwettbewerbs das Preisgericht zusammen. Ein Mitglied der Jury heißt Gudrun Sticht-Schretzenmayr. Die Frage, die sich den Juroren stellt: Welcher Architekt soll das neue Kunstmuseum – Kavalier Dallwigk plus Erweiterung – auf dem Gießereigelände bauen? "Wir waren", sagt Sticht, "spontan der Meinung: Das ist es!" Gemeint ist der spektakuläre Braunfels-Entwurf, Wolkenbügel genannt, ein Baukörper als Skulptur, die selbstbewusst und mit großer Geste bis hinüber zur Donau auskragt.

"Man weiß sofort, was in dem Gebäude drin sein könnte, das passt wunderbar zum Inhalt, das hat uns überzeugt." Und die CSU-Politikerin führt damals noch ein anderes Stichwort ins Feld: Bilbao. Das dortige Guggenheim-Museum des weltberühmten Architekten Frank O. Gehry lockt die Besucherscharen an. Warum, fragt Sticht, sollte das in Ingolstadt nicht möglich sein?

Doch in der Jury gibt es neben Begeisterung auch Bedenken: Die Eingriffe in das Baudenkmal Kavalier Dallwigk seien bei Braunfels gravierend, der Blick auf die Altstadtsilhouette werde gestört, der praktische Museumsbetrieb (Aufzüge, Anlieferung) werde durch einige Mängel erschwert. Dies alles führt dazu, dass Braunfels nicht strahlender Wettbewerbssieger wird, sondern nur dritter Preisträger. Viele Politiker in der CSU bekommen jedoch vor allem deshalb kalte Füße, weil der Architekt angeblich das Kostenlimit um 50 Prozent überschreitet. Bei seinem umstrittenen Vorzeigeprojekt – der Münchner Pinakothek der Moderne – sei es ebenso gewesen. "Damals geisterte durch die Presse", erinnert sich Sticht, "dass Braunfels die Kosten nicht einhalten kann." Was der streitbare Architekt seinerseits entschieden dementierte.

Auch Peter Schnell, 30 Jahre lang Ingolstädter Oberbürgermeister, bekommt nach dem Wettbewerb 2000 Angst vor der eigenen Courage. Ursprünglich ein engagierter Verfechter der Braunfels-Idee, rückt der CSU-Politiker langsam vom "Abenteuer Braunfels" ab, weil er das Kostenrisiko für nicht mehr kalkulierbar hält. "Ich habe mir nicht mehr zugetraut, die Ingolstädter auf dem Weg zu diesem umstrittenen Entwurf mitzunehmen", gesteht er sich heute ein. Da wäre die "Ingolstädter Mentalität" vielleicht doch überfordert gewesen.

Zum Schwur kommt es im April 2002, als im Stadtrat die Entscheidung getroffen werden muss, welcher Architekt das Kunst- und Designmuseum bauen darf. In der CSU-Fraktion, die mit absoluter Mehrheit regiert, steht es Spitz auf Knopf. Trotz der Einwände genießt der Braunfels-Entwurf nach wie vor große Sympathien. Aus einer internen Probeabstimmung der Christsozialen sickert durch, dass elf Fraktionsmitglieder den Wolkenbügel unterstützen wollen, 13 sind dagegen. Das würde bedeuten: Bei einer offenen Abstimmung im Stadtratsplenum reicht es mit Unterstützung von SPD und Grünen zu einer Mehrheit für Braunfels.

Zu den glühenden Befürwortern gehört Gudrun Sticht-Schretzenmayr. Auch die CSU-Stadträte Paul Lindemann und Harald Renninger machen sich für den Architekten stark. OB Schnell und vor allem Albert Wittmann – heute Stadtkämmerer – halten dagegen. Ratlosigkeit in der Fraktionsführung. Ein Eklat soll unbedingt vermieden werden. Deshalb gilt die Order: Die Causa Wolkenbügel ist keine Gewissensentscheidung, also gilt strenge Fraktionsdisziplin, also stimmen alle CSU-Stadträte geschlossen gegen Braunfels.

Selbst Sticht-Schretzenmayr muss sich geschlagen geben und "wehmütigen Herzens" vom Braunfels-Entwurf verabschieden, wie sie damals in einer Ausschussdebatte sagt. "Ich hab mich überhaupt nicht wohl gefühlt in meiner Haut", beschreibt sie heute ihre Rolle. "Die haben mich dazu verdonnert, gegen Braunfels zu stimmen." Der fehlende Mut führender CSU-Leute, eine offene Abstimmung zuzulassen, verfälscht dann im Stadtratsplenum das tatsächliche Meinungsbild. Dort bekommt das Münchner Architekturbüro Morpho-Logic am 25. April 2002 klar mit 32 zu 15 Stimmen den Zuschlag. Der Wolkenbügel verschwindet in der Schublade seines Schöpfers Braunfels. Die Chance ist vertan.

"Mir tut es sehr Leid", kommentiert Sticht-Schretzenmayr die aktuelle Diskussion über die Gießereihalle, "dass sich Ingolstadt wieder nur mit kleinen Lösungen zufrieden gibt." Audi habe mit seinem Museum mobile, der Audi-Piazza und dem neuen Verwaltungsgebäude einen großen Wurf gewagt, "da hätte ich mir auch von der Stadt etwas Gleichwertiges gewünscht". In diesem Punkt ist die frühere Fraktionschefin mit dem Alt-OB inzwischen auf einer Wellenlänge. "Aus meiner Sicht ist es sehr schade", bekennt Peter Schnell, "dass der Braunfels-Entwurf nicht realisiert wurde." Gäbe es heute noch einmal diese Möglichkeit, so fährt er fort, "ich würde mich dafür engagieren".