Ingolstadt
Geisterhafte Anschriften

Warum beginnt die Münchener Straße mit Hausnummer 8 – und warum wohnt niemand in der Paradiesgasse?

16.05.2013 | Stand 03.12.2020, 0:08 Uhr

 

Ingolstadt (DK) Das Ingolstädter Adressbuch wirft Fragen auf: Wo sind die Hausnummern 1 bis 7 der Münchener Straße hingekommen? Und warum wohnt niemand in der Paradiesgasse, obwohl die Straße mitten in der Stadt liegt

Manchmal kann nur noch das Gasthaus helfen. Alle drei bis vier Wochen, so berichtet Anna Radloff vom Bonschab, kommen Verzweifelte in die Gaststätte an der Münchener Straße und fragen – teils nach stundenlanger Suche – nach dem rechten Weg. „Einmal kam einer, der hatte ein Vorstellungsgespräch in der Münchener Straße Nummer 5“, erinnert sich Radloff. „Er wollte wissen, wo das ist.“ Das Problem: Die Adresse gibt es gar nicht. Das Bonschab hat die Nummer 8, die Häuser 1 bis 7 sind verschwunden.

Die Erklärung, warum das so ist, sei „ganz einfach, wenn man es mal weiß“, sagt Michael Klarner, Sprecher der Stadt Ingolstadt, nach einem erhellenden Anruf im Bauordnungsamt: Einst war die Münchener Straße länger. Auf Höhe des Gasthauses machte sie einen Knick nach Nordwesten und traf unweit des Turms Baur auf die Parkstraße, die entlang der Donau verläuft. Damals gab es auch die Hausnummer 1 bis 7 noch. Im Adressbuch aus dem Jahr 1950, das der Heimatforscher Hans Fegert in seiner Sammlung hat, lässt sich nachlesen: Nummer 1 bis 6 belegte die IRO, die International Refugee Organization, die in der einstigen Pionierkaserne – der heutigen Berufsschule – eine Ausbildungsstätte betrieb. Die Nummer 7, das so genannte Wallmeisterhaus, war ein Wohnhaus.

Mit dem Bau der Konrad-Adenauer-Brücke von 1948 bis 1952 wurde alles anders. Sie ersetze die von den Amerikanern gebaute hölzerne Behelfsbrücke, die errichtet wurde, nachdem die einstige Donaubrücke Anfang 1945 von den Ingolstädtern gesprengt worden war, um feindlichen Truppen die Querung des Flusses zu erschweren. Die neue Brücke wurde großzügig geplant, sie war nicht nur sehr breit – damals war noch eine zweigleisige Straßenbahn geplant –, sondern auch sehr hoch und hatte deswegen auf beiden Uferseiten lange Auffahrtrampen. „Man dachte daran, die Donau hier schiffbar zu machen“, so Fegert. Eine niedrige Brücke hätte Kähne behindert.

Am Nordufer fiel der Rampe das Donautor zum Opfer, im Süden wurde der Straßenverlauf geändert. Die Brücke war zu hoch, um den Verkehr direkt in die Parkstraße neben der Donau abzuleiten. Ein großer Straßenbogen wurde gebaut (Der Brückenkopf), der nach Osten verlief und erst beim Gasthaus Bonschab wieder auf die Münchener Straße trifft. Das so abgeschnittene nördliche Ende der Straße wurde der Parkstraße zugeschlagen und ist noch heute als etwa 100 Meter langer Appendix hinter dem Turm Baur erkennbar.

Es gibt in Ingolstadt weitere Straßen, denen im Lauf der Geschichte Adressen verloren gegangen sind. In der Paradiesgasse – sie geht von der Georg-Oberhäußer-Straße ab – sind gar keine Adressen mehr vermerkt. Eine Straße ohne Häuser also. Das war nicht immer so. 1920 stand in der Paradiesgasse 1 das Geburtshaus von Edmund Schuller. Der spätere Mesner und Kirchenführer in der Kirche Maria de Victoria erinnert sich: „Unten hatte der Limonadenhersteller Weltmeier seinen Laden, wir wohnten drüber.“ Insgesamt standen hier sieben Häuser. In Fegerts Adressbuch von 1950 steht hinter vier Anschriften ein Vermerk: „Total zerstört“. Tatsächlich wurden alle Häuser der Paradiesgasse bei Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg beschädigt. Die Ruinen mussten später dem Kaufhaus Merkur, der heutigen Galeria Kaufhof, weichen. Es trägt die Ludwigstraße im Briefkopf, die Paradiesgasse hat all ihre Häuser verloren. Welche Adresse ein neues Haus bekommt, hängt davon ab, wo der Eingang ist, so Stadtsprecher Klarner. Eine Straße ohne Adressen ist in Ingolstadt kein Einzelfall. In der Kelheimer Straße, die entlang des Bauprojektes „Schwinge“ die Regensburger Straße und die Schlosslände verbindet, ist ebenfalls niemand gemeldet. Trotzdem hat sie einen Namen bekommen. „Das hilft, wenn etwa der Rettungsdienst konkrete Angaben braucht, über welche Route ein Unglücksort am schnellsten angefahren werden kann“, erklärt Klarner – und sie eignet sich hervorragend für Verabredungen mit Leuten, die man eigentlich gar nicht treffen mag. Man sollte also hellhörig werden, wenn jemand sagt: „Ich warte vor der Kelheimer Straße 3 auf Dich.“