Ingolstadt
Die Spuren der Vergangenheit

Ein helles Band im Pflaster des Viktualienmarktes erzählt von der bewegten Geschichte des Ortes

04.10.2013 | Stand 02.12.2020, 23:35 Uhr

 

Ingolstadt (DK) Ein weißes Band im Pflaster umkreist die Buden und Biertischgarnituren des Ingolstädter Viktualienmarktes. Manch einer mag sich fragen, was diese Linie bedeutet. Sie erzählt von einem angeblichen Wunder und einem dunklen Kapitel Schanzer Geschichte.

Die Gäste des Viktualienmarktes trinken ihr Bier an einem geschichtsträchtigen Ort. Ob hier tatsächlich schon die Römer in einem Tempel ihrem Gott Merkur gehuldigt haben – wie es Apian vermutet hat – lässt sich heute allerdings nicht mehr beweisen. Sicher ist jedoch, dass das Areal im Mittelalter bebaut war. Damals war hier das Judenviertel Ingolstadts. Um die Synagoge herum standen mehrere Steinhäuser, südlich davon, wo heute die Schutterstraße verläuft, floss das Stadtflüsschen Schutter der Donau entgegen.

Auf Geheiß Herzogs Stefan III. wurde das Viertel im Jahr 1384 geräumt. Die Juden – die zuvor als seine Bankiers dienen durften – wurden enteignet und vertrieben, ihre Synagoge wurde abgerissen. An ihrer Stelle stiftete Stefan III. eine Marienkirche. Sie wurde 1397 gebaut. 1606 wurde der Kirche ein Augustinerkloster angeschlossen.

In der Schutterkirche verehrten die Gläubigen eine Madonnenfigur aus dem 14. Jahrhundert. Die Wallfahrt zur sogenannten Schuttermutter war die wichtigste Einnahmequelle des Klosters. Die Figur soll einst von den Juden geschändet worden sein. Die hätten ihr den Kopf abgetrennt und sie in die Donau geworfen, hieß es. Die Marienfigur sei aber in wundersamer Weise gegen die Strömung die Schutter hinaufgeschwommen, bis an die Stelle, an der später die Kirche erbaut wurde, dem heutigen Viktualienmarkt. Bei Hochwasser könnte eine hölzerne Figur tatsächlich die Schutter hinauf getrieben worden sein, erklärt Heinrich Niedermeier, Schutterexperte und Ingolstädter Stadtführer. Das allerdings ist sehr unwahrscheinlich. Die Augustiner haben die antisemitische Geschichte vom wundersamen Weg der Schuttermutter erfunden, um die Wallfahrt anzukurbeln.

Die Werbung zeigte Wirkung. Der Ansturm der Pilger wurde so stark, dass die Marienkirche zu klein wurde. 1736 wurde deswegen der Grundstein zu einem neuen Gotteshaus gelegt, das nur vier Jahre später eingeweiht wurde. Das prächtige Werk des Baumeisters Johann Michael Fischer gehörte zu den bedeutendsten Rokokobauten Bayerns. Lange konnten sich Pilger und Mönche allerdings nicht an ihm erfreuen. Während der Säkularisation mussten die Augustiner Ingolstadt verlassen. Die Franziskaner erhielten das Kloster 1802 als Aussterbekloster.

Am 9. April 1945 wurden die Kirche und das Kloster von einer Fliegerbombe getroffen. Im Luftschutzkeller unter dem Altarraum fanden 73 Menschen den Tod. Zwölf Tage später setzte eine Brandbombe die Reste der Kirche in Flammen. Unter den Ingolstädtern, die damals mit Entsetzen auf das Inferno blickten, stand auch Heinrich Niedermeier. Zwölf Jahre war er damals alt. Aus den Trümmern retteten die Schanzer die Schuttermutter. Die Figur steht heute in der Franziskanerkirche.

Manche Ingolstädter hätten die Augustinerkirche gerne wieder aufgebaut. „Das wäre sicher noch gegangen“, erinnert sich Niedermeier. Allein, es fehlte am Geld, und die Menschen hatten nach dem Krieg andere Sorgen. 1950 wurde die Ruine schließlich eingeebnet. Wo einst das Judenviertel samt Synagoge und danach zwei Kirchen gestanden hatten, bauten die Ingolstädter einen Parkplatz.

1975 entstand an dieser Stelle der Viktualienmarkt. Die Umrisse der Augustinerkirche wurden mit hellem Naturstein im Boden nachgezeichnet. Stellenweise verschwinden sie allerdings unter den Imbissbuden, Fahrradständern und Bierbänken. Wenn Niedermeier heute den Blick über den Viktualienmarkt schweifen lässt, sieht er vor seinem geistigen Auge noch immer die Pracht der einstigen Kirche. „Schade“, sagt er dann. „Sehr schade.“