Ingolstadt
Im Viertel der Verdichtung

Der Nordwesten wächst kaum noch weil einfach der Platz dafür fehlt

29.08.2016 | Stand 02.12.2020, 19:22 Uhr

Häusermeer vor monumentaler Industriekulisse: Im Nordwesten prägen hohe Wohnblocks die Siedlungsstruktur. Es gibt aber auch weniger dicht bebaute Straßen mit Reihen-, Ein- und Mehrfamilienhäusern. Hier eine Aufnahme aus dem Jahr 2013. ‹ŒArch - foto: Schalles

Ingolstadt (DK) Im Bezirk Nordwest schlägt das industrielle Herz der Stadt. Hier zeigen sich Licht und Schatten der jüngeren Ingolstädter Stadtentwicklung in besonders starkem Kontrast. Die Geschichte des Piusviertels erzählt von städtebaulichen Innovationen - und Fehlern.

Von Wandel kann eigentlich keine Rede sein. Die Veränderungen, die der Nordwesten der Stadt nach dem Krieg erfahren hat, legen eher den Begriff Umwälzung nahe. Wo die Schanzer noch in den 1950er-Jahren über sumpfige Wiesen wandelten, pulsiert heute das Zentrum einer Automobilmetropole mit internationaler Strahlkraft; der gewaltige industrielle Komplex, den das Audi-Werk mit seinen inzwischen gut 40 000 Mitarbeitern und die monumentale Hallenlandschaft des Güterverkehrszentrums (GVZ) nebenan bilden, kündet eindrucksvoll von diesem Aufstieg, ebenso das Hochhaus- und Wohnblockmeer ringsum.

Die bewegte Geschichte des Bezirks Nordwest erzählt jedoch auch sehr anschaulich von den Problemen und Schattenseiten dieser Entwicklung. Es ist das Viertel der Verdichtung und statistischen Spitzenwerte: In dem 470 Hektar großen Stadtteil leben nach den Zahlen der Stadtverwaltung (Stand 31. Dezember 2015) insgesamt 18 169 Bürger, das sind 3867 pro Quadratkilometer; der zweithöchste Wert, nur der Bezirk Nordost ist mit 4316 Menschen pro Quadratkilometer noch dichter besiedelt. Der Anteil der Ingolstädter mit ausländischen Wurzeln ist im Nordwesten der mit Abstand höchste: Er liegt derzeit bei 31,6 Prozent. Zum Vergleich: Im Bezirk Süd sind es nur 5,7 Prozent. Auch bei der Zahl der Kinder und alten Menschen ist der Nordwesten weit vorne dabei. Die Bevölkerung wächst hier seit Jahrzehnten auffällig langsam. Das liegt auch an der Verdichtung. Es ist kaum noch Platz für Neubauten.

Und wenn Raum geschaffen wird, dann ziemlich oft für Audi. Das Werk dehnt sich auf breiter Front aus. Die Kommunalbetriebe und der Bauhof ziehen demnächst weg, danach werden Fußballplatz und Klubhaus des FC Grün-Weiß komplett versetzt. An der Stelle entstehen Werksbauten. Gewaltige Vorgänge. Eigentlich. Aber im Nordwesten kann so etwas schon als fast normal gelten.

Viele Ingolstädter sprechen schlicht vom Piusviertel, aber der Bezirk Nordwest geht weit darüber hinaus. Mit der Kirche St. Pius nahm der fundamentale Wandel jedoch seinen Anfang. Rund um das 1958 eingeweihte, stilistisch kühn in die Moderne weisende Gotteshaus entstand eine auf dem Reißbrett entworfene Mustersiedlung für modernes Wohnen, die Komfort auf der Höhe der Zeit bot. Hier lebten vor allem Facharbeiter, die sich diesen Standard jetzt leisten konnten. Doch die Wohlstandsexpansion im Wirtschaftswunderdeutschland hängte das Piusviertel im Laufe der 1980er-Jahre ab. Immer mehr Bewohner zogen weg, gern in ein Eigenheim im Westen oder Süden der Stadt. Ihre Wohnungen übernahmen oft türkischstämmige Bürger. Nach dem Ende des Kalten Kriegs kamen Tausende Spätaussiedler aus der früheren UdSSR dazu. Weil die Wohnungsbaugesellschaften lange Zeit nicht mehr viel in die Gebäude investiert hatten, schritt die Verwahrlosung voran. Es begann das böse Gerede vom "Glasscherbenviertel" und "Ghetto".

Seit den späten 1990ern wird kräftig gegengesteuert. Die EU legte das Programm "Soziale Stadt" für benachteiligte Viertel auf. Der Bund, das Land Bayern und die Stadt finanzierten es und bescherten dem Bezirk Nordwest über viele Jahre hohe Investitionen. Insgesamt flossen rund 100 Millionen Euro in die ästhetische und energetische Aufwertung zahlreicher Gebäude, in die Pflege des Umfelds sowie in soziale Projekte. Allein die Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft, die im Nordwesten rund 2000 Objekte vermietet, trug mit fast 40 Millionen Euro dazu bei, dass aus der einstigen Mustersiedlung, die zum Problembezirk herabsank, erneut ein Vorzeigeviertel wurde, denn die erfreulichen Effekte einer konsequenten und planvollen Förderung benachteiligter Stadtteile lassen sich selten derart anschaulich besichtigen wie im Ingolstädter Bezirk Nordwest.