Ingolstadt
Die Tränen fließen noch immer

Mordfall Anastasia M.

17.07.2018 | Stand 02.12.2020, 16:03 Uhr
Die Urne mit den sterblichen Überresten der ermordeten Frau und ihres ungeborenen Kindes. −Foto: Richter

Ingolstadt/Passau (DK) Der Mord an der hochschwangeren Anastasia M. in Ingolstadt sorgt auch nach mehr als zweieinhalb Jahren für Leid und Schmerz bei den Angehörigen - aber auch beim dafür verurteilten Christian A. Er bestreitet die Tat bis heute vehement.

Der Fluss murmelt leise vor sich hin, Wasser umspült die Ufersteine, kleine Strudel gurgeln um Hindernisse herum. "Hier haben sie die tote Frau rausgezogen", erzählen drei Männer am Ingolstädter Donaustrand. Bei schönem Wetter sitzen sie dort gern auf ein Bier zusammen. Gut zweieinhalb Jahre ist das Ganze nun her. Anastasia M. war in der Nacht zum 29. November 2015 niedergeschlagen und ertränkt worden, das Baby im Leib der Hochschwangeren starb ebenfalls. Die Polizei nimmt einen Soldaten als mutmaßlichen Täter fest. Der Mann wird später zu lebenslanger Haft verurteilt, bis heute bestreitet er, der Mörder zu sein. Er sitzt in der Justizvollzugsanstalt Straubing und zermartert sich das Gehirn. Anastasias Schicksal hält auch andere in Leid und Trauer gefangen.

Dieser furchtbare Schmerz, er will einfach nicht aufhören. "Das quält dich ein Leben lang", sagt die Mutter des Opfers. Natalia M. lebt in Bad Griesbach im Kreis Passau und ist bis heute in therapeutischer Behandlung, so sehr hat der Tod der 22-Jährigen sie gebeutelt. Anastasia - der erste Gedanke am Morgen gilt ihr, die es nicht mehr gibt, und Natalia M. geht mit dem Bild der Tochter vor Augen abends ins Bett. Warum ist sie nur weggegangen in die Großstadt? Aber für die junge Frau hatte es kein Halten gegeben, sie wollte raus aus dem Kurort, nachdem sie den Abschluss an der Passauer Wirtschaftsschule in der Tasche hatte. Sie träumte davon, Hotelfachfrau zu werden, von großen Reisen oder langen Fahrten auf prächtigen Kreuzfahrtschiffen.

In Ingolstadt findet Anastasia rasch Anschluss und wird ungewollt schwanger. Der vermeintliche Kindsvater soll sie umgebracht haben, um seine Ruhe zu haben, das Gericht sieht darin das Motiv. In Wirklichkeit war der Erzeuger des Kindes aber ein ganz anderer, wie die Obduktion der Toten bestätigt.

"Ihr Zimmer ist noch genauso, wie sie es verlassen hat", erzählt Anastasias Mutter. Oft sitzt sie da, und die Tränen fließen. Warum alles nur? "Ich weine nur zuhause, draußen lasse ich mir nichts anmerken", sagt die 55-Jährige. Außer in der Therapie. Die Familie gibt ihr Halt, "vor allem meine vier Enkelkinder". Rafael ist eines von ihnen, sechs Jahre alt. Er spricht oft von "Tante Nastja", nach dem Kindergarten verschwindet er in ihrem Zimmer und erzählt vor ihrem Foto von seinem Tag. Rührende Szenen und Trost für die Mutter: Die Tochter ist nicht vergessen, nicht mal bei den Kleinen.

Am Gericht war Natalia M. jenem Mann begegnet, der für dieses Leid verantwortlich sein soll: Christian A., heute 27 Jahre alt, aus einem Ingolstädter Vorort. Sie hat ihm alle mögliche Pein gewünscht, dass er im Gefängnis verrotten und hart büßen möge. Reaktionen einer Mutter. Aber es gibt da etwas, was sie nachdenklich macht. "Erst hat er immer weggeschaut, später hat er oft meinen Blick gesucht. Er hat dabei den Kopf geschüttelt, als wollte er mir sagen: Ich war es nicht!" Natalia M. hat seither viel sinniert. Ist der 27-Jährige wirklich der Mörder?

Das Gericht in Ingolstadt zeigt sich davon felsenfest überzeugt: "Aufgrund der Zusammenschau sämtlicher festgestellter Indizien samt den daraus gezogenen Schlüssen ist die Kammer von der Täterschaft des Angeklagten zweifelsfrei überzeugt", heißt es im Urteil. Beobachter des Verfahrens, auch solche mit juristischem Hintergrund, sehen dagegen offene Fragen. "Man hätte durchaus nach dem Grundsatz ,Im Zweifel für den Angeklagten' entscheiden können", findet einer, der den Prozess verfolgt hat. "Die Beweislast war für mich nicht gerade erdrückend."

"Ich bin es nicht gewesen" - diesen Satz wiederholt Christian A. stets aufs Neue, wann immer es um seinen Fall geht. Am 30. November 2015 hatte die Polizei ihn festgenommen, nach Stationen in verschiedenen Justizvollzugsanstalten sitzt er seit fast acht Monaten im Straubinger Gefängnis. Da, wo Mörder, Räuber oder Vergewaltiger, die ganz "schweren Jungs", in Bayern eben landen, wenn sie acht, neun Jahre oder mehr zu büßen haben. "Das Personal behandelt mich anständig, und mit den anderen komme ich klar. Ich habe das Urteil angenommen, weil mir keine Wahl bleibt, aber akzeptieren werde ich es nie!" Er knetet seine Finger. "Sie haben halt einen gebraucht, aber es gibt andere, die ein gutes Motiv hätten. Die beste Zeit meines Lebens bin ich eingesperrt." In seinen Augen glitzert es.

Christian A. arbeitet als Koch, das ist "draußen" sein Beruf gewesen. Wenigstens das haben sie ihm gelassen. Sein Tag beginnt um 5 Uhr früh und endet mittags, rund 300 Euro im Monat bekommt er dafür. Für 130 Euro darf er einkaufen, ansonsten bleibt nicht viel - er muss schließlich für die Gerichtskosten in sechsstelliger Höhe aufkommen. Zeit hat er dagegen im Überfluss und nutzt sie zum Basteln (aktuell an einem Backgammon-Brett), zum Tischtennisspielen oder Schwimmen.

Immer wieder studiert er seine Akte, was soll er sonst tun? Warum ist so viel, was auch anders zu deuten wäre, zu seinen Ungunsten ausgelegt worden?, fragt er sich. In der Zelle gibt es neben Bett, Stuhl, Tisch und Schrank einen Fernseher - "und eine Schreibmaschine". Briefe zu schreiben ist eine ganz neue Erfahrung für einen jungen Menschen wir ihn. E-Mails oder WhatsApp? Fehlanzeige, nicht mal ein Telefon. "Zum Glück hält meine Familie zu mir, und auch Freunde besuchen mich noch." Sie leiden ebenso wie die Angehörigen des Opfers.

"Ich glaube an seine Unschuld", sagt Christians Mutter. "Das passt alles gar nicht zu ihm, Mädchen gegenüber ist er immer der Beschützer gewesen." Einmal, so erzählt sie, habe er nachts Hilfeschreie einer Frau gehört und sei ihr sofort zu Hilfe geeilt, der Freund hatte sie geschlagen. "Und jetzt soll er selbst ein Gewalttäter sein? Da ist unseres Erachtens schlampig ermittelt worden. Aber wir können nichts machen."

Ihr Sohn hat derweil ausgerechnet, dass er mit etwa 42 Jahren freikommen könnte, wenn alles gut läuft. Es wird eine ihm fremde Welt sein, mit autonomen Autos, Digitalisierung bis ins Kleinste, Flugtaxis und anderen Neuerungen. Aber bis dahin werden noch viele Tränen in Bad Griesbach, Ingolstadt und Straubing fließen.