Ingolstadt
Im Armenhaus Europas

25.05.2011 | Stand 03.12.2020, 2:47 Uhr

Gegensätzliche Hauptstadt: In Chisinau schießen die Hochhäuser aus dem Boden. An allen Ecken wird monumental gebaut. Doch ein Großteil der Bevölkerung ist bettelarm. - Foto: oh

Ingolstadt (DK) Sven Neuenfeldt gibt es offen zu. Als die Reise konkret wurde, da musste er im Atlas doch einmal nachschauen, wo denn dieses Moldawien überhaupt genau liegt. Der Leiter des Arbeitgeberservices bei der Ingolstädter Arbeitsagentur erfuhr: Eingeklemmt zwischen Ukraine und Rumänien ist die Republik Moldau eines der ärmsten Länder Europas – deswegen wollte die Regierung dort ja auch Hilfe von außerhalb. Sie bekam sie aus Ingolstadt.

Die Moldauer kämpfen an allen Fronten. Sie wollen weg vom großen Bruder Russland und orientieren sich stark an Europa. "Die wollen extrem viel machen", sagt Neuenfeldt. So kam er jetzt im Rahmen eines EU-Projekts zu der Woche Aufenthalt in der Hauptstadt Chisinau. Seine Aufgabe: Wie sich eine Arbeitsvermittlungsbehörde auch um die Arbeitgeber kümmern kann. Er hielt mit einem Kollegen aus Bamberg Vorträge vor hochrangigen Beamten des Landes. Und stieß auf völliges Neuland – für beide Seiten.
 

Für Neuenfeldt war es selbst ein Kulturschock. 180 Euro ist umgerechnet der durchschnittliche Monatslohn eines Moldauers. "Die Schwarzarbeit ist extrem hoch", sagt Neuenfeldt. "Sonst könnten die Leute nicht überleben." Er hat es selbst gesehen: Beim abendlichen Spaziergang auf den Boulevards von Chisinau schossen die fliegenden Stände aus dem Boden.

Aufstrebend, das wird gerne für solche Städte verwendet. Für Neuenfeldt war es eine Reise der großen Gegensätze. "Das ist wirklich ein sehr armes Land. Überall sieht man Bettler." Die Leute müssen mit 12 bis 18 Euro Rente im Monat auskommen. "Andererseits siehst du die jugendlichen nur mit Handys rumlaufen. Alle paar Meter ist ein Mobilfunkladen." Und auf den Straßen die Q5. "Chisinau ist auch eine sehr saubere Stadt. Das liegt kein Fitzelchen rum."

Momentan lebt Moldawien vom Export. Neben der normalen Landwirtschaft ist Wein das große Thema. "Unglaublich", sagt Neuenfeldt über das staatliche Weingut Cricova, dessen Lagerhallen und Verkaufsräumen sich unterirdisch über Kilometer erstreckt. Und das Land lebt von dem, was die Exil-Moldauer heimschicken.

Davon will man wegkommen. Am besten sollen die Leute heimgeholt werden. Entsprechende EU-Förderprogramme besteht. Internationale Industrie hat sich zudem angesiedelt. "Deutsche Firmen sind sehr aktiv dort." Der Automobilzulieferer Dräxlmeier eröffnete erst vor wenigen Tagen ein weiteres Werk. Das bedeutet 1000 zusätzlich Stellen. Es gibt sie also tatsächlich die Jobs. Die Republik Moldau zählt nur rund sieben Prozent Arbeitslose.

Doch wie kommt da die Arbeitsvermittlung in Gang? "Damit die unterkommen, die sonst keine Chance haben", sagt Neuenfeldt. Seine Aufgabe war gefragt. Das Ingolstädter Modell kam also gut an. Doch es mangelt zuerst an der Struktur. 250 Arbeitsberater hat Moldawien für das gesamte Land. Allein in Ingolstadt sind es ungefähr 50! "Dort gibt es auch noch viele bürokratische Hürden", sagt Neuenfeldt.

Er umschreibt es so: "Moldawien sucht noch seine Identität." Die große Aufgabe heißt: Weg von sozialistischen Denken. Doch der Ingolstädter spricht mit Hochachtung von den Einheimischen. "Da ist wirklich ein Lebensgefühl des Aufbruchs. Die wollen was bewegen." Moldau startet in Richtung Europa durch. Dabei hilft er natürlich gerne ein bisschen mit – selbst wenn Neuenfeldt zuvor den Atlas wälzen muss.