Ingolstadt
Das Leben ist schön

Marita Wetzl wohnt und arbeitet in der Lebenshilfe – Weihnachten feiert sie heuer doppelt

23.12.2014 | Stand 02.12.2020, 21:49 Uhr

 

Ingolstadt (DK) 28 Jahre arbeitet sie schon in der Lebenshilfe, Weihnachten feiert sie doppelt – und seit Kurzem hat sie einen Freund. Marita Wetzl hat das Down-Syndrom und im vergangenen Jahr viel mitgemacht.

Trotzdem: Hinter ihrem schüchtern-verschmitzten Lächeln wahrt sie schier unendliche Lebensfreude. Marita Wetzl hat eine schwere Zeit hinter sich. Das letzte Weihnachten hat sie in der Klinik verbracht. „Da bin ich operiert worden – und da.“ Sie streicht mit der Hand über ihre rechte Hüfte und fasst sich an den Kopf. Sie brauchte ein neues Hüftgelenk – doch es gab Komplikationen. Bakterien. Über ein Jahr war sie in verschiedenen Kliniken und auf Reha. Manchmal sah es schlecht für sie aus, doch: „Marita ist eine Kämpferin“, sagt Ralf Giepen, stellvertretender Leiter des Fachbereichs Wohnen, fast ein bisschen stolz. Sie selbst strahlt – dieses Jahr feiert sie Weihnachten zu Hause, seit Mai ist sie zurück in der Lebenshilfe. Zweimal Weihnachten. Zweimal zu Hause.

Ein großer Christbaum steht in der Eingangshalle der Dr.-Wilhelm-Reissmüller-Wohnstätte, in der Marita Wetzl und 78 weitere Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung leben. Rote Holzanhänger schwingen im Luftzug, wenn die Eingangstür aufgeht. Es duftet nach Tannennadeln und Wachs, das langsam an einer der großen Kerzen im Adventskranz herunterrinnt. An Heiligabend liegen die Geschenke neben der Krippe. Dann lesen die Bewohner die Weihnachtsgeschichte, singen, trinken Tee und Glühwein – zusammen oder in Gruppen, je nach Lust und Laune. „Wir geben so wenig wie möglich vor, unterstützen nur, wenn es wirklich notwendig ist – auch wenn etwas mal länger dauert“, erklärt Ralf Giepen.

Marita Wetzl feiert noch eine zweite Bescherung mit ihrer Familie. „Unser Ziel ist es, dass sie sich freut, wenn sie nach Hause zu ihrer Familie fährt – und auch, wenn sie hierher nach Hause zurückkehrt. Keine Konkurrenz“, sagt Ralf Giepen. Zweimal Weihnachten, zweimal zu Hause. Marita Wetzl lächelt entzückt. Familie ist ihr wichtig – und Arbeiten, das sind mit ihren Freunden in der Wohngruppe die Pfeiler in ihrem Leben. 28 Jahre ist sie schon in den Werkstätten der Lebenshilfe angestellt, seit ihrer schweren Krankheit arbeitet sie in der Schongruppe.

„Sie ist ein alter Hase bei uns“, sagt Leiterin Ingrid Rothenberger. Marita Wetzl sitzt am Tisch in der Schongruppe und sticht mit einer Nadel hoch konzentriert die Konturen eines Herzens nach. Für einen Wimpernschlag schaut sie auf, mit festem Blick über ihre Brillengläser hinweg, und lächelt verschmitzt. Ihre Augen sind mandelförmig. Dann wendet sie sich wieder ihrer Aufgabe zu: Einkaufstaschen verzieren. Ingrid Rothenberg lacht – „Marita weiß mit jedem umzugehen“.

Auch wenn sie gegenüber Fremden anfangs schüchtern ist und der Besucher eine Weile braucht, um ihre Worte allein schon akustisch zu erfassen – „sie selbst versteht alles“, sagt Ralf Giepen, „nicht wahr, Marita“ Wieder dieser verschmitzte Blick. Sie nickt und hält die Hände kurz an die Ohren. Ihre Hörbrille pfeift beidseitig schrill – so weiß sie, dass die Lautsprecher funktionieren. Marita Wetzl ist schwerhörig, wie etwa 57 von 100 Menschen mit Down-Syndrom. „Bei meiner Schwester hab’ ich auch ein Gehwagerl“, erzählt sie zum Thema Hilfsmittel. Da war sie auch zum Plätzchenbacken eingeladen. Ihre Feierabende verbringt sie am liebsten mit den anderen aus ihrer Gruppe – und sie geht gerne in den Zoo. „Wegen der Elefanten.“

Von hinten nähert sich Reinhard aus einer anderen Gruppe und pustet Marita Wetzl sacht in den Nacken. „Willst sie ärgern“, fragt Ralf Giepen. Marita Wetzl schaut zu Reinhard hoch – und er gibt ihr einen Kuss auf den Mund. Ganz flüchtig. „Jetzt weißt es“, sagt Reinhard zufrieden, Ralf Giepen ist erstaunt – alles wisse er eben auch nicht. Und im Gehen: „Beim Ausflug hab’ ich ihr die Freundschaft angeboten.“ Sie strahlt. „Die Freude am Leben ist wichtig, es geht nicht nur um satt und sauber, sondern darum, Dinge gemeinsam zu machen und Fähigkeiten zu erhalten“, sagt Uwe Stelzer, Integrationsbeauftragter der Lebenshilfe.

Was sie sich zu Weihnachten wünscht? „Ein Malbuch.“ Marita Wetzl überlegt. „Buntstifte.“ Sie freut sich selbst über den Einfall – oder vielleicht schon im Voraus auf die neue Malausrüstung. Noch ein Wunsch? „Ein Fotoalbum.“ Das alte ist fast voll. Familie, Ausflüge, sie selbst beim Schwimmen. Über ihrem Bett hängt ein großes Familienbild – Bruder und Schwester, Neffen und Nichten. Und mittendrin: eine vergnügte Marita Wetzl. Auf einem anderen ist die Wohnheimgruppe zu sehen, wie sie sie im Krankenhaus besucht. Sie ist Teil, das fällt auf – nicht am Rand, sondern in der Mitte.

Nachdem sie ihr Zimmer in der Wohnstätte gezeigt hat, will sie gleich zurück in die Werkstatt. Mitten am Tag aufhören zu arbeiten, geht für sie nicht. „Für 100 Euro, die man in die Werkstatt reinsteckt, bekommt man 123 raus“, verrät Ralf Giepen, „jeder hier sorgt im Rahmen seiner Möglichkeiten für seinen Lebensunterhalt.“

„Und ich wünsch’ mir einen Rucksack“, schiebt Marita Wetzl nach. Spätestens zu ihrem Geburtstag am 9. Januar erfüllt sich auch dieser Wunsch ganz bestimmt. Der Fünfzigste. „Wir sind fast gleich alt“, verrät Ralf Giepen. 16 Jahre arbeitet er schon in der Wohnstätte. „Und ich bleibe.“ Freundschaftlich klopft er ihr auf die Schulter. „Wir zwei werden hier gemeinsam alt.“ Über die Brillengläser hinweg wirft sie ihm ihren verschmitzten Blick zu.