Ingolstadt
Das Leben als Abwärtsspirale

Im Prozess um den gewaltsamen Tod eines Reichertshofeners kommen bizarre Vorfälle aus der Vergangenheit der Angeklagten zur Sprache

20.05.2015 | Stand 02.12.2020, 21:16 Uhr

Ingolstadt/Reichertshofen (DK) Im Landgerichtsprozess um den gewaltsamen Tod eines alkoholkranken Reichertshofeners (DK berichtete) ist die 5. Strafkammer gestern anhand zahlreicher Zeugenaussagen tief in das Vorleben der 40-jährigen Angeklagten eingestiegen. Dabei rundete sich das Bild von einer Frau mit zwei Gesichtern: Aus einem überaus gebildeten, umgänglichen, oft sogar witzigen Menschen, so hieß es in übereinstimmenden Schilderungen, soll ab einem gewissen Alkoholspiegel regelmäßig eine unberechenbare Person mit furienhaften Zügen geworden sein. Beleidigungen, ungebührliches Benehmen und Gewalttätigkeiten seien häufig vorgekommen. Bis es am 14. Mai vorigen Jahres zum mutmaßlichen Totschlag an dem 51-jährigen Frührentner kam, der jetzt vor Gericht aufzuklären ist.

Die Prozessbeteiligten und zahlreichen Zuschauer im Saal 11 des Landgerichts wurden gestern auch Zeugen eines seit vielen Jahren schwelenden Familienkonflikts, der womöglich auch die tieferen Ursachen für das vielfache exzessive Verhalten der Angeklagten in den vergangenen Jahren liefert: Zwischen der 40-Jährigen und ihren Angehörigen stimmt es offenbar seit frühester Jugend der Frau nicht mehr. Insbesondere das Verhältnis zu ihrem Vater scheint schwer belastet.

Dieser Mann sagte gestern als erster einer ganzen Reihe von Zeugen vor der Kammer aus und provozierte damit einige Zwischenrufe seiner Tochter, die mehrfach in Tränen ausbrach. Vorsitzender Thomas Denz versuchte wiederholt, die Wogen etwas zu glätten und appellierte an die Frau, vielleicht künftig nach neuen Auswegen aus der offensichtlich verfahrenen familiären Situation zu suchen. Doch danach schaute es gestern erst einmal nicht aus.

Der Vater schilderte seine Tochter als schon in frühen Jahren auffälligen Charakter. Als sie kurz nach der Pubertät magersüchtig geworden sei, habe es zunächst zwei Schulwechsel und dann eine schleichende Entfremdung von den Eltern gegeben. Man habe der Tochter in Schulfragen und beim Studium (Kunstgeschichte) zwar völlig freie Hand gelassen und sie finanziell unterstützt, bei Zusammenkünften daheim aber immer häufiger Streit erlebt. Mehr und mehr habe man die Auftritte der Tochter als bedrohlich empfunden: „Wir hatten richtig Angst, dass sie kommt.“

Die Angeklagte fand diesen Schilderungen zufolge zwar zunächst eine Anstellung in einem Münchner Museum, soll dort aber Probleme mit Kollegen und Vorgesetzten bekommen haben und gekündigt worden sein. Nach einem Umzug nach Berlin begann den Aussagen weiterer Zeugen zufolge eine Abwärtsspirale mit Arbeitslosigkeit, zunehmenden Alkoholexzessen und schließlich sogar Obdachlosigkeit, die die Frau offenbar durch ihr exaltiertes Verhalten provoziert hatte: „Sie schaffte es, einen ganzen Kiez in Vibrationen zu versetzen, weil sie mit jedem Streit anfing“, beschrieb ein Freund, der sich offenbar auch Hoffnungen auf eine dauerhafte Beziehung gemacht hatte, die Wesenszüge seiner Bekannten.

Selber musste der heute 59-jährige Frührentner auf eindringliche Weise erfahren, zu welchen Taten sich die Frau hinreißen ließ: Im Rausch habe sie ihn öfter körperlich attackiert, dabei auch kampfsportmäßige Fußtritte ausgeteilt und ihn sogar einmal besonders übel mit den Fingernägeln im Genitalbereich verletzt, hieß es. Dieser Vorfall führte dann auch zu einer Anzeige und zu einer Verurteilung wegen Körperverletzung.

Auch andere Männerbekanntschaften glitten offenbar schnell ins Dramatische ab. Ein weiterer Zeuge, der zeitweise mit der Frau intim gewesen sein will, berichtete unter anderem von einer zerschlagenen Fensterscheibe seiner Wohnung, die auf das Konto der Angeklagten gegangen sein soll. Sobald der Wodka ins Spiel gekommen sei, habe sich ab einem gewissen Pegel blitzartig ihr Wesen verändert: „Wie eine Seite, die man in einem Buch umschlägt“, sagte der Mann – „eine Seite weiß und eine schwarz.“

Als sie obdachlos wurde, sorgten die Berliner Behörden für eine amtliche Betreuung der Alkoholikerin, die sich aber immer wieder Therapie- und Wohnangeboten entzogen haben soll. Die zuständige Sozialarbeiterin sagte gestern aus, dass die Angeklagte offenbar große Probleme habe, sobald Strukturen in ihr Leben eingezogen werden sollen.

Der Prozess wird erst im Juni fortgesetzt. Beim nächsten Termin sollen erste Gutachter gehört werden.