Das
"Überall ist die Trauer"

Werner Plantsch arbeitet und wohnt seit 25 Jahren auf dem Ingolstädter Nordfriedhof in Nachbarschaft zu 4500 Gräbern.

31.10.2016 | Stand 02.12.2020, 19:06 Uhr

Vom Wohnzimmer ins Büro: Werner Plantsch hat einen sehr kurzen Weg zur Arbeit - nur durch einen kleinen Flur.

Das Herbstlaub strahlt in warmen Farben von Gelb, Orange und Braun gegen den grauen Wolkenhimmel. Ein Windstoß reißt wieder einen Schwung Blätter von den Ästen, die ein paar Momente lang wie Goldflitter durch die Luft wirbeln und dann zu Boden fallen. Männer mühen sich mit kleinen Kehrmaschinen und Laubbläsern ab, den leuchtenden Teppich wegzuräumen. Das aufgeregte Heulen der Motoren hallt über die Grabstätten, von denen die meisten für Allerheiligen mit frischen Blumen und Lichtern geschmückt sind.

Ein Mann, ganz in Grau, schreitet die Grabreihen entlang und blickt aufmerksam um sich. Werner Plantsch, Verwalter des Nordfriedhofs in Ingolstadt, macht seine Runde. Allerheiligen bedeute Stress und Belastung, sagt der 52-Jährige. "Der wichtigste Tag auf dem Friedhof. Wir sperren erst um Mitternacht zu." Das ist seine Aufgabe, denn Plantsch arbeitet nicht nur auf dem Friedhof, er wohnt auch dort - in Nachbarschaft zu 4500 Grabstätten. Seit 25 Jahren führt er ein Leben unter Toten.

Von Beruf ist Werner Plantsch Spengler. "Damals wurde man nach der Lehre als junger Geselle ausgestellt. Ich war 19 Jahre alt und brauchte Arbeit - also fing ich bei einem Bestattungsunternehmen an. Meine allererste Begegnung mit dem Tod." Plantsch erinnert sich noch, wie er den Leichnam eines alten Mannes, der sich in einem Stadl erhängt hatte, versorgen musste. "Man handelt zuerst und denkt später."

Nach kurzer Zeit findet Plantsch Arbeit in einem Industriebetrieb, dann wechselt er zum städtischen Tiefbauamt. Als eine Stelle als Friedhofsschaffner ausgeschrieben wird, bewirbt er sich. "Da habe ich alles von Grund auf gelernt." Als der Friedhofsverwalter in Rente geht, möchte Plantsch die Nachfolge antreten. "Der Haken war, dass du mit deiner Familie auf den Friedhof ziehen musst. Wir hatten damals zwei kleine Jungs. Ein wenig Überredungskunst war bei meiner Frau schon nötig. Wir haben uns die Dienstwohnung angeschaut, drei Zimmer, Küche, Bad, dann hat sie zugestimmt." 800 Euro Miete zahlt Plantsch aktuell. "Warm. Aber dafür brauch' ich ja kein Auto."

Vom Wohnzimmer aus gelangt der Verwalter durch einen winzigen, mit Hausschuhen bestückten Flur und eine Tür mit der Aufschrift "privat" direkt in sein geräumiges Büro. Schon praktisch: "Du bist zu Hause und doch in der Arbeit." Manchmal jedoch ist gerade das auch ein gewaltiger Nachteil. "Als wir noch keine Mauer hatten, sind die Leute manchmal direkt über die Terrasse gelaufen und haben bei uns ans Fenster geklopft, wenn sie etwas wissen wollten." Doch auch mit Mauer bleibt das Gefühl: "Du bist immer greifbar. Wenn ich Urlaub habe, fahre ich weg."

Gegruselt hat es ihn oder seine Frau noch nie, so nahe bei den Toten auf dem Friedhof zu leben. "Unser Ältester hatte Vorbehalte, aber der Jüngere zeigte keine Scheu und hat sich manchmal sogar die Aufgebahrten angeschaut." Plantsch zuckt mit den Achseln: "Der Tod gehört grundsätzlich zum Leben, quasi schon von der Geburt an. Und die Menschen, die hier liegen, die tun dir nichts."

Manchmal freilich empfindet er die Belastung, die seine Arbeit mit sich bringt, als immens. Täglich Gespräche mit Hinterbliebenen zu führen: "Die sitzen dir gegenüber, weinen und erzählen dir die ganze Geschichte des Verstorbenen, um sich die Seele zu erleichtern. Da muss man zuhören und Anteil nehmen." Seinen Beruf liebt er, will ihn engagiert ausfüllen, aber zugleich Abstand wahren. "Es ist ganz wichtig, dass man alles, was hier passiert, nicht an sich heranlässt. Sonst wird man depressiv."

Neuerdings bekommen die Friedhofsmitarbeiter psychologische Hilfe - so wie Polizisten, Feuerwehrleute oder Rettungssanitäter. Werner Plantsch findet das nur richtig, gerade nach tragischen Ereignissen wie tödlichen Verkehrsunfällen oder wenn Kinder sterben. "Hin und wieder gibt es Situationen, da denke ich, warum ich mir das antue. Die Trauer, die in jedem Zimmer ist. Überall ist die Trauer." Er räuspert sich: "Es ist doch so, dass es nichts Positives gibt auf einem Friedhof. Es geht jemand, es fehlt jemand, jemand ist nicht mehr da."

In den 25 Jahren seiner Tätigkeit habe sich die Art und Weise, wie Menschen trauern, stark verändert, meint Plantsch. "Unsere Friedhöfe werden immer leerer. Früher wurden Gräber noch in der Familie vererbt, heutzutage werden sie meistens nach der vorgeschriebenen Ruhefrist von zehn Jahren aufgelöst." Alles sei eben auch eine Frage des Geldes: Daher auch der Trend zur kostengünstigen Urnenbeisetzung, deren Anteil mittlerweile in Ingolstadt bei 60 Prozent liegt. "Besonders Baumurnengräber sind sehr gefragt", weiß Plantsch.

Die Spätaussiedler allerdings hätten noch andere Vorstellungen von Trauer. "Die lassen den Sarg offen, weil alle noch den Opa oder die Oma sehen wollen. Die wollen eine Erdbestattung, keine Urne, und zur Beerdigung kommt manchmal sogar die Blasmusik."

Im ganz großen Stil tragen die Sinti ihre Toten zu Grabe - auch auf dem Nordfriedhof. Der Verwalter deutet auf ein Feld mit weitläufigen, aufwendig gestalteten Gruftanlagen, die von handgeschmiedeten gusseisernen Einfriedungen umgeben sind. "Die lassen sich eine Bestattung noch richtig was kosten. Als der Clanchef beerdigt wurde, kamen rund 800 Leute, und ringsum war ein riesiges Blumenmeer." Vor ungefähr einem Jahr sei sogar einmal Menowin, bekannt aus der Castingshow "Deutschland sucht den Superstar", unter den Trauergästen gewesen. "Der hat das ,Ave Maria' gesungen - das war richtig schön."

Abschied nehmen sei eben wichtig, meint Plantsch. "Einmal hatten wir einen Suizid - ein Mann, der sich vor den Zug geworfen hatte. Dem Vater haben wir es ermöglicht, dass er zumindest noch einmal die Hand seines Sohnes halten konnte."

Durch die Aussegnungshalle mit ihrem markanten, meterhohen Spitzdach - die Anlage ist ein Entwurf der Architekten Heinrich Amann, Ludwig Geith, Manfred Törmer - geht es zu den Abschiedsräumen. In einem ist ein schwerer Eichensarg mit wertvollen Beschlägen aufgebahrt. "Der wiegt mindestens 170 Kilogramm, den werden wir zu sechst tragen müssen", meint der Verwalter im Vorbeigehen. Das Grab ist schon ausgehoben, ein kleiner Eimer mit Erde und Schaufel sowie eine Vase mit zwei Dutzend Edelrosen stehen bereit.

Vor Jahren einmal herrschte große Aufregung auf dem Nordfriedhof. Da hatte sich ein Wildschwein aus dem Gehege am Baggersee, aufgeschreckt vom Hochwasser, auf die Anlage verirrt und hinter einem Grabstein versteckt. Plantsch alarmierte die Polizei, die wiederum verständigte die Staatsanwaltschaft und einen Jäger. Bevor der die Wildsau erlegen durfte, musste der Abschuss genehmigt werden. "Denn hier ist befriedetes Gebiet."

Friedlich ist es - einmal abgesehen vom Lärm des benachbarten Güterverkehrszentrums, das dem Friedhof ziemlich nahe gerückt ist. Werner Plantsch erzählt, dass er gerne sonntags einen Morgenspaziergang über den Friedhof macht. "Vor allem im Frühjahr, wenn die Mandelkirschbäume rosa blühen, ist es wunderschön. Das schaut aus wie Zuckerwatte. Die Vögel zwitschern, und die Eichhörnchen springen herum." In solchen Momenten denkt er sich: "Wir wohnen so ruhig hier. Unser Friedhof ist doch ein schöner Ort."