Gestochen scharf

Diese Kunst geht unter die Haut: Tattoos und Piercings wurden zum Massenphänomen - ein Körperkult, bei dem Schmerzen dazugehören. Ein Blick in die bunte Szene in Ingolstadt - und so manch einer wurde nicht nur mit Fragen gelöchert.

26.10.2018 | Stand 02.12.2020, 15:22 Uhr
  −Foto: Hammer

Diese Kunst geht unter die Haut: Tattoos und Piercings wurden zum Massenphänomen - ein Körperkult, bei dem Schmerzen dazugehören. Ein Blick in die bunte Szene in Ingolstadt - und so manch einer wurde nicht nur mit Fragen gelöchert.

Neun Nadeln stechen in Sekundenschnelle in die Haut. Ein Surren liegt in der Luft, der bärtiger Mann setzt die Maschine erneut an, jagt die silbernen Spitzen in den Arm. Die Augen konzentriert zusammengekniffen. Mit einem Tuch fährt er routiniert über die Stelle. Fünf Stunden lang wird er nun die zweite Hautschicht mit Tinte füllen. "Den Schmerz ertrag ich gerne. Man muss sich ein Tattoo auch erarbeiten", sagt Carlos Santos und lächelt. Er ist zum vierten Mal im Stargate-Tattoostudio am Josef-Strobl-Platz, das mit 25 Jahren Bestehen das älteste Tattoostudio Ingolstadts ist.

Der Körperschmuck ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen - mittlerweile ist jeder fünfte Deutsche tätowiert. Früher noch als anrüchiges Mitbringsel am Körper von Seefahrern und Gefängnisinsassen verpönt, gilt es nun als modisches Accessoire für jedermann. Carlos Santos zum Beispiel ist Stammdatenmanager. Sein erstes Tattoo hat sich der heute 50-Jährige mit 18 Jahren stechen lassen, einen Rabentotenkopf auf den Rücken - damals noch ein Zeichen der Rebellion für ihn. Das zweite, ein Tribal, schlingt sich um seinen Oberarm. "Das war meine Sturm und Drang Zeit", erklärt der. Seinen linken Oberarm schmücken Koikarpfen und Kirschblüten im japanischen Stil - ein Symbol für ein einschneidendes Erlebnis in seinem Leben. Die Erinnerung daran trägt er jetzt für immer an seinem Körper. "Wer offen seine Tattoo trägt, ist eine ehrliche Haut." Wie ein Mandala malt der Tätowierer die schwarzen Umrandungen aus. Mit seinen schwarzen Latexhandschuhen reißt er die sterile Verpackung der Nadeln auf.

Eineinhalb Stunden später und Carlos Santos hängt immer noch an der Nadel, die Tinte färbt seinen Arm in korallenen Blautönen. "Gerade fühlt es sich an wie eine Schürfwunde, tausendfach perforiert", sagt er. Die Nadeln wandern surrend weiter, bis zum Ellenbogen. Hier ist die Haut sehr dünn - eine besonders schmerzhafte Stelle. Aber Carlos verzieht keine Miene. Der Schmerz gehört zu dieser Art des Körperkults in gewisser Weise dazu: "Bei Tattoos geht es darum, anders zu sein als andere. Aber in erster Linie trägt man Tattoos für sich, für niemand anderen", erzählt Santos.


Auf das Stargate-Studio ist er durch seinen Arbeitskollegen gekommen. "Du musst einen Tätowierer finden, der deine Vorstellungen genau umsetzen kann", erklärt Santos. Für ihn ist das Eli - der bosnische Tattoo-Künstler beugt sich nach vorne. Sein Ohrläppchen besteht mehr aus Loch als aus Ohr - denn er hat es geweitet , trägt einen sogenannten Tunnel. Seinen Arm ziert ein großflächiges schwarzes Tattoo. Mit 16 Jahren hat er angefangen, sich selbst und dann seine Freunde zu tätowieren. Mit der kleinen Maschine bearbeitet er das japanische Tattoo von Carlos Santos - ein zeitloses Motiv.

 

 



Stargate-Geschäftsführer Dominik Kuttenberger weiß: Trends kommen und gehen. Derzeit seien minimalistische Tätowierungen mit feinen Linien modern. "Tribals, schwarze Ranken, und Oldschool-Motive, also Rosen und Anker, sind wieder am Kommen", prognostiziert Kuttenberger. Wichtig sei seinem Team und ihm die Ästhetik, das Gesamtbild muss stimmig sein. "Nicht jedem Trend sollte man folgen", sagt Kuttenberger. Gemeint ist ein gewundenes Tattoo über dem Steißbein, vulgo "Arschgeweih". Solche Mode-Motive leben dann meist nicht lange. Viele Hautärzte bieten deshalb die Laserentfernung mit einem Rubinlaser an (siehe Kasten).

Auch das Stargate-Studio arbeitet mit Laserentfernung. "Unsere Kunden lassen sich oft auch nur einen Teil entfernen. Mit einem Cover-Up stechen wir ihnen dann ein neues Tattoo an derselben Stelle", so Geschäftsführer Dominik Kuttenberger. Im Nebenzimmer hält Tätowierer Eli kurz inne und wischt über Santos' Arm. "Ich hab mal einer 80-jährigen Frau eine Chili-Schote tätowiert", erzählt er, "sie wollte immer noch scharf sein." Unbeirrt setzt er die Nadel wieder an. Gut drei Stunden haben er und Carlos Santos noch vor sich.